Mythos Ueberfremdung
autoritären Regimen lebten, empfanden ihre Religion jetzt auf eine neue Art als vorrangige, alternative Identität. Und viele Menschen im Westen empfanden ein neuartiges Gefühl vom Islam als politischer Bedrohung. Im darauf folgenden Jahrzehnt brach die Wirtschaft vieler Länder mit muslimischer Mehrheit zusammen, gingen manche Regierungen zur Militärdiktatur über oder wurden korrupter, und ethnische Bewegungen im Libanon und den Palästinensergebieten wurden von Israel gedemütigt, was viele ihrer frustrierten Anhänger dazu bewog, ihre Identität vom »Araber« oder »Palästinenser« zum »Muslim« zu verlagern. Die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, Zentralasiens und des indischen Subkontinents erlebten in dieser Zeit aus einer Reihe von Gründen fürchterliche Rückschläge auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, und ihre rundum autoritären Regierungen verloren auf internationaler Ebene jegliches Ansehen. Es war kein Grund zum Stolz mehr, Afghane oder Malaysier, Araber oder Türke zu sein. Das geringste Wirtschaftswachstum weltweit, der höchste Grad von Despotismus und Korruption sowie diktatorische Herrscher, die wie Marionetten Moskaus oder Washingtons agierten, diese drei abwertenden Faktoren machten Nationalismus und Stolz auf die eigene Ethnie zu einem Ding der Unmöglichkeit. Wenn einem die eigene Ethnie und Nationalität zur Schande gereichten, blieb nur noch die religiöse Identität übrig. Viele Menschen ergriffen diese Gelegenheit.
Anfang der 1990er-Jahre, als die Fatwa des Ajatollah Khomeini gegen Salman Rushdies Satanische Verse die ersten Todesopfer forderte und westliche Truppen im Golfkrieg in ein muslimisches Land einmarschierten, war dieser Wandlungsprozess abgeschlossen. In jenem Jahr veröffentlichte der Historiker und Orientalist Bernard Lewis seinen äußerst einflussreichen Essay »The Roots of Muslim Rage«, zierte damit den Titel der Zeitschrift The Atlantic Monthly, führte den Begriff »Kampf der Kulturen« (»clash of civilizations«) in unseren Sprachgebrauch ein und regte zahllose Journalisten und Politiker dazu an, sich die längst aufgegebene Vorstellung von einer besonderen »muslimischen Welt«, deren Werte und Ziele im Gegensatz zu einem monolithischen Westen standen, zu eigen zu machen. Die islamistische Version dieser Vorstellung – die Umma, die vereinigte, eigenständige muslimische Welt – sammelte ihren eigenen, kleinen, aber durchaus lautstarken Kreis von Anhängern, von denen einige gewalttätig waren, in den stagnierenden und gedemütigten Ländern Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens und Zentralasiens.
Diese Entwicklung fiel in eine Zeit, in der die erste große muslimische Einwandererwelle in Großbritannien, auf dem europäischen Festland und in Nordamerika aus den Kinderschuhen herauskam, oft unter schwierigen und ärmlichen Begleitumständen. Bis dahin war ihre Nationalität, ihre Ethnie oder ihre sprachlich-kulturelle Herkunft die Quelle der eigenen Identität gewesen (und manchmal auch die Ursache für die Intoleranz, mit der sie es zu tun bekam). Sie waren als »Pakis« diskriminiert worden, als Schwarze, Araber oder als Sprecher asiatischer Sprachen. Jetzt waren sie »Muslime«. So nannten die politischen Parteien, Journalisten, Aktivisten und Autoren sie jetzt, mit Zorn oder Angst oder, gelegentlich, auch mit unangemessener Ehrfurcht.
Für manche von ihnen war dies auch die vorrangige Identität, die sie für sich in Anspruch nahmen, auch wenn ihre Eltern sich anders verhalten hatten. Der britische Autor Kenan Malik war in den 1970er-Jahren Mitglied antirassistischer Bewegungen, in denen er gemeinsam mit anderen Einwandererkindern um die Anerkennung als gleichberechtigter britischer Bürger kämpfte. Ende der 1980er-Jahre musste er überrascht feststellen, dass viele seiner einstigen Weggefährten sich inzwischen dem Islam verschrieben hatten und einige davon so weit gingen, gegen die Satanischen Verse zu protestieren. Sher Azam, einer seiner Freunde, erklärte ihm, dass seine wiedergeborenen muslimischen Glaubensbrüder ihre neue Identität nicht als Verweigerung, sondern als grundlegenden Bestandteil der Integration sehen würden – als eine Möglichkeit, in einem Land, das sie herabgewürdigt und gedemütigt und in die wirtschaftlichen und geografischen Randbereiche verwiesen habe, ihren Stolz zu wahren. »Sich als Muslime zu verstehen hat sie britischer gemacht und nicht weniger britisch«, sagte ihm Azam. »Sie bezeichnen
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