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Mythos Ueberfremdung

Mythos Ueberfremdung

Titel: Mythos Ueberfremdung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doug Sounders
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sich jetzt als Muslime. Nicht als Pakistanis oder Inder, sondern als Muslime. Sie sind Briten. Aber sie sind auch Muslime.« Nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit um herziehenden Banden von »Paki-Bashers« und der schlim men Rassenpolitik im Großbritannien der 1970er-Jahre haben einige Angehörige dieser zweiten Generation von Einwanderern ein Gespür dafür entwickelt, wie man die eigenen – um die Moschee gruppierten – Straßen und Viertel für sich in Besitz nehmen und eigene Regeln für die Auseinandersetzung festlegen kann. Das, hält Malik fest, war keine unvermeidliche Folge der muslimischen Einwande rung. Fast 50 Jahre lang hatten Einwanderer darum ge kämpft, einer Identifikation über ihre Religion zu entgehen; erst in jüngerer Zeit wurde sie, oft in Ermangelung einer anderen Quelle des Stolzes, zu einem sichtbaren Zeichen der Selbstidentifikation. 1
    Wie schon die katholischen und jüdischen Einwanderer vor ihnen stellten sie fest, dass ihre zuvor ruhende religiöse Identität nicht nur eine Ursache für Diskriminierung, sondern auch eine tröstliche Quelle der Selbstbestätigung war. Die Vorstellung von einem einzigen, uniformen »muslimischen Volk« – von einer Kultur – wurde, nach einem Muster, das wir schon bei anderen Einwanderergruppen beobachtet haben, von Eiferern und Gläubigen zugleich gepflegt. Die Juden wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur als Religion oder Kultur wahrgenommen, sondern als einheitliche Rasse, als homogenes Volk, und das galt nicht nur für organisierte Antisemiten und weltanschauliche Eiferer, sondern auch für radikale jüdische Nationalisten. Ende des 20. Jahrhunderts widerfuhr den Muslimen dasselbe. Omar Ba, ein aus dem Senegal stammender Gemeindevorsteher in Belgien, beschrieb mir die Anziehungskraft der muslimischen Identität unter seinen jungen Nachbarn so: »Sie ist das modernste, exportfähigste, am leichtesten zu konsumierende Kulturpaket, das man haben kann.« Wenn man keinen Stolz oder Wert mehr damit verbindet, »Senegalese«, »Afrikaner«, »schwarz« oder »Einwanderer« zu sein, aber von den Menschen, unter denen man lebt, immer noch nicht als »Belgier«, »Brite« oder »Europäer« akzeptiert wird, ist der religiöse Weg nahezu die einzige einladende kulturelle Identität, die noch bleibt – zumindest für eine auffällige Gruppe aus der zweiten Einwanderergeneration.
    Diesen Zusammenhang müssen wir verstehen, wenn wir die wahren Probleme angehen wollen, mit denen muslimische Einwanderergemeinden im Aufnahmeland zu tun haben, und etwas gegen die politischen und wirtschaftlichen Probleme in den Ländern mit muslimischer Mehrheit tun wollen. Der Rückzug auf eine eindimensionale religiöse Identität ist nichts, was sich unvermeidlich aus dem Koran ergibt, und er ist auch kein zeitloses Merkmal muslimischer Gesellschaften. Er ist vielmehr eine ganz besondere persönliche und politische Reaktion auf die eigenen Lebensumstände, und er kann so leicht beendet werden, wie er begann.

II Das Problem der Integration
    A ls Jamal Elboujddaini aus dem Flugzeug stieg, war er Marokkaner. Sein Vater hatte in der bitterarmen und isolierten Rif-Region im Norden des Landes ein Bauernleben geführt. Seine Familie gehörte zu den Zehntausenden von Nordafrikanern, die in den 1970er-Jahren nach Europa kamen, um die enorme Nachfrage nach Arbeitskräften in der Fertigungs industrie, in der Landwirtschaft und im einfachen Dienstleistungsgewerbe zu bedienen. Jamals Vater sprach weder Flämisch noch Französisch, als die Elboujddainis in der wohlhabenden belgischen Stadt Antwerpen eintrafen, und auch sein Arabisch war holprig. Wie die meisten anderen neu eingetroffenen Einwanderer zogen sie in ein Viertel mit billigen Mieten, in dem andere Marokkaner aus den Dörfern des Rif wohnten, Türken aus Dörfern in Anatolien und dem Südosten des Landes, Polen aus dem ländlichen Schle sien und Schwarzafrikaner aus den Ländern südlich der Sahara. Fast alle diese Menschen durchliefen einen kulturellen Anpassungsprozess, lernten eine neue Sprache und machten zugleich einen aufregenden Übergang vom Land- zum Großstadtleben mit.
    Ihr neues Zuhause, ein im 19. Jahrhundert entstandener Bezirk, den man nach der Postleitzahl als »2060« kannte, war immer eine arme Gegend gewesen, ein dicht vernetztes Hafenarbeiterviertel, das für Trunksucht, weiche Drogen und Prostitution bekannt war. In den 1990er-Jahren war es zu einem muslimischen Viertel geworden. In den

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