Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
Frage aber lautet: Welche Strategie wäre aus Sicht des Gehirns am vorteilhaftesten?
Tatsächlich galt bis in die 90 er Jahre des 20 . Jahrhunderts die Annahme, dass das Gehirn zu 100 Prozent passiv durch das Glukoseangebot aus dem Blut versorgt wird. Man nahm an, dass die Leistungsfähigkeit des Gehirns immer nur so gut war, wie es der Blutzuckerspiegel ermöglichte: War wenig Glukose im Blut, konnte das Gehirn halt weniger leisten, und es hatte sich damit abzufinden. Die meisten Therapien und Diäten zur Gewichtsreduzierung basieren bis heute auf dieser Grundannahme einer passiven Hirnversorgung.
Heute wissen wir, dass diese Vorstellung nicht stimmt. Das System ist – wie sollte es auch bei unserem Gehirn anders sein – viel raffinierter, komplexer und effektiver. Ähnlich wie die aktive Restaurantmanagerin versucht das Gehirn zu analysieren, wie viel wann genau benötigt wird. Die neuere Hirnforschung hat gezeigt, dass das Gehirn zur Deckung seines wechselnden Bedarfs die Energie aus dem Blut aktiv anfordert, und zwar indem der Energiefluss vom Blut ins Gehirn durch Angebot und Nachfrage reguliert wird. In Ruhe verbrauchen die Nervenzellen des Gehirns zu ihrer Grundversorgung vor allem Glukose. Arbeitende Nervenzellen verwenden hingegen für ihre elektrische Aktivität nicht direkt die Glukose, die vom Darm aus der Nahrung gewonnen oder von der Leber freigesetzt wird – genauso wenig, wie die eingekauften Lebensmittel im Restaurant einfach unverarbeitet an die Gäste verteilt werden. Sobald die Nervenzellen arbeiten, decken sie ihren Energiebedarf quasi à la carte, indem sie Laktat »bestellen«. Dieses Laktat (Milchsäure) wird direkt aus Glukose gewonnen, bevor es die Nervenzellen »verzehren«. Die Nervenzellen des Gehirns fordern also Laktat an, und zwar in dem Moment, wenn sie die Energie brauchen, und in der Menge, die nötig ist, um ihren hohen Bedarf zu decken. Anders als im Restaurant gibt es im menschlichen Organismus nach der Bestellung aber so gut wie keine Wartezeit. »Serviert« wird sozusagen sofort, oder wie man in der Wirtschaftslehre sagt, »just in time«. Dieses Versorgungsprinzip ist in seiner Effektivität genial einfach: Das Gehirn kann jederzeit beim Körper Energie bestellen, unabhängig davon, ob wir gerade etwas gegessen haben oder nicht. Die konventionelle Sichtweise von Medizin und Ernährungsforschung hatte die Rolle des Gehirns bei der Hirnversorgung also stark unterschätzt und außer Acht gelassen, dass das Gehirn selbst ein aktiver Regler seiner eigenen Energieversorgung ist.
Zum Glück selbstsüchtig – wie das Gehirn den anderen Organen sagt, was es braucht
Aus diesem Prinzip der Selbstversorgung des Gehirns mit Energie habe ich den metaphorischen Begriff der Selfishness – Selbstsüchtigkeit – abgeleitet. Der Begriff der »Selbstsucht« hat in unserem Sprachverständnis allerdings einen negativen Beigeschmack. Egoismus gilt als eine eher negative Charaktereigenschaft, weil sie impliziert, dass jemand sich auf Kosten anderer oder der Allgemeinheit Vorteile verschafft und so Schaden anrichtet. Auch der Egoismus unseres Gehirns bei der Energiebeschaffung besteht vor allem darin, dass es sich vor allen andern Organen bedient. Es kann zu diesem Zweck sogar die Energiezufuhr aller übrigen Organe des Körpers regelrecht drosseln – in extremen Situationen auch auf die Gefahr hin, dass die Organe Schaden nehmen. So gesehen erfüllt das Gehirn den Tatbestand der Selbstsucht. Doch der Egoismus des Gehirns hat auch eine andere Seite, und die ist von entscheidender Bedeutung: Der Vorteil, den sich das Gehirn durch die Sicherstellung der Energieversorgung verschafft, dient auch den Interessen der anderen Organe, die nämlich nur dann überleben können, wenn das Gehirn handlungs- und lebensfähig bleibt.
Eltern zuerst oder der gesunde Egoismus im Flugzeug
Zur Veranschaulichung möchte ich eine Gefahrensituation beschreiben, auf die die meisten von uns, oft schon mehrfach, ausführlich hingewiesen wurden. Eine Passagiermaschine kurz vor dem Start. Die Fluggäste lassen das Ritual der Sicherheitshinweise durch eine der Flugbegleiterinnen über sich ergehen: Richtig anschnallen, es gibt sechs Notausgänge, Schwimmwesten befinden sich unter dem Sitz und so weite r. Dann kommt der Abschnitt, in dem von einem eventuellen plötzlichen Druckabfall in der Maschine die Rede ist. Sauerstoffmasken würden aus der Decke fallen, und die Flugbegleiterin erklärt, wie man sie korrekt
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