Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
sind
Wenn ich auf Vorträgen die neuen Erkenntnisse der Selfish-Brain-Forschung erläutere – und ich tue dies ja bereits seit zehn Jahren –, sind die Reaktionen des Publikums sehr unterschiedlich. Für viele Zuhörer eröffnet sich eine neue Welt, ein neues Verständnis ihres eigenen Körpers. Phänomene rund ums Körpergewicht, um Stress und Essverhalten, die die meisten von uns auch schon an sich beobachtet haben, werden endlich verständlicher. Einige Menschen berichten mir nach so einer Veranstaltung, was ihnen die neue Erkenntnis bedeutet. Das freut mich natürlich sehr, und oft spüre ich auch an spontanen Reaktionen während eines Vortrags, dass manche Zuhörer eine Art »Aha-Erlebnis« haben oder ihre persönliche Geschichte in dem Gesagten wiederfinden. Es gibt aber natürlich auch die Fraktion der Skeptiker. Deren kritische Grundannahme ist keineswegs ungewöhnlich, sondern uns allen nur zu vertraut, weil wir über Jahrzehnte mit ihr sozialisiert wurden. Es geht dabei um Folgendes: Fragt man Menschen, was sie über die Ursachen von Adipositas denken, erhält man einer jüngsten deutschen Umfrage zufolge meist folgende Antwort – jedenfalls sinngemäß: »Wenn jemand dick wird, passiert das, weil er willensschwach und faul ist.« Wer seine Ansichten nicht in dieser Klarheit und brutalen Offenheit ausdrücken will, kodiert sie, beruft sich dem Anschein nach auf den Energieerhaltungssatz der Physik und sagt stattdessen euphemistisch: »… diese Menschen essen zu viel und bewegen sich zu wenig.« Die Befragten schrieben also die Ursache des Dickseins internen Faktoren zu und wiesen damit den dicken Menschen selbst die Schuld an ihrem Zustand zu. Und außerdem implizierten sie damit, eine Umkehrung des Verhaltens würde das Problem im Handumdrehen lösen. Tatsächlich ist diese Sichtweise aber mit sachlichen Widersprüchen behaftet, denn weder die Vorstellung von »Willenlosigkeit« noch die von »Sucht« passt zu den derzeitigen wissenschaftlichen Beobachtungen: Dicke Kinder und Erwachsene haben nämlich deutlich mehr kognitive Kontrolle (»Beherrschung«) über ihr Essverhalten als alle anderen. Das Denken, aktiv Gewicht zu reduzieren, sei auch gut für den gesamten Gesundheitszustand, ist ebenso einer dieser Mythen, die unser Vorstellung vom Dickwerden und Abnehmen prägen.
Es ist tatsächlich so, dass dicke Menschen bedarfsgerecht essen – nicht zu viel und nicht zu wenig –, gerade so viel, um ihr Gehirn ausreichend zu versorgen. Die Körperfülle eines dicken Menschen ist also Ausdruck seines Energiebedarfs im Gehirn, genauer gesagt, seine Körperfülle zeigt uns die Art und Weise, wie das Gehirn seinen Energiebedarf deckt. Warum das Volltanken unseres zentralen Nervensystems bei manchen Menschen dazu führt, dass sie dick werden und andere schlank bleiben? Auch darauf gehe ich später ausführlich ein.
Eingangs erwähnte ich, dass es sich bei dem Buch, das Sie gerade lesen, nicht um einen Diätratgeber handelt, obwohl es durchaus auch um das Thema Abnehmen geht. Die meisten der etwa 10000 anderen derzeit erhältlichen Bücher zum Thema Diäten beschäftigen sich mit Strategien, kurzfristig Gewicht abzubauen. Und kurzfristig mag das auch funktionieren – nur ist der Abnehmerfolg nicht von Dauer. Und das nicht, weil man vielleicht gerade eine Abnehmkur ausprobiert, die nicht zu einem passt, und stattdessen nur nach dem richtigen Konzept oder Zeitpunkt suchen müsste. Nein – all diese propagierten Ideen und Pläne vom Abnehmen gehen von grundlegend falschen Voraussetzungen aus, die seit Jahrzehnten Teil der gängigen medizinischen Lehrmeinung waren. Anders gesagt: Selbst die scheinbar seriösen und medizinisch beziehungsweise ernährungswissenschaftlich fundierten Diäten scheitern, weil ein noch so ausgewogenes und ausgeklügeltes Konzept nicht funktionieren kann, wenn es auf falschen Annahmen beruht. Die spannende Frage lautet: Wie konnte das passieren? Wie konnte es sein, dass sich die Medizin in diesem Punkt Jahrzehnte in einer derartigen Schieflage befand?
Die Theorie vom egoistischen Gehirn entstand, weil ein wichtiges Detail lange übersehen wurde
In der Wissenschaft verhält es sich manchmal wie auf unbekanntem Terrain, das man ohne Kompass und eindeutiges Kartenmaterial erkundet. Man kommt an eine Gabelung: Welchen Weg soll man nehmen? Man wägt ab, ohne alle Fakten zu kennen, und letztlich muss man sich entscheiden, muss der Annahme vertrauen, dass der eingeschlagene Weg
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