Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
aufsetzt. Dann sagt sie einen Satz, der den Eltern unter den Passagieren wahrscheinlich jedes Mal aufs Neue befremdlich erscheint: Erwachsene setzen sich bitte zuerst die Masken auf, bevor sie ihrem mitreisenden Kind beim Anlegen der Maske helfen. Da regt sich unweigerlich innerer Widerstand: Wenn Gefahr droht, ist es doch selbstverständlich, dass Mütter oder Väter zuerst ihrem Kind helfen und es in Sicherheit bringen, bevor sie an sich denken. Sich erst selbst die Maske aufzusetzen, wertet der Beschützerinstinkt in uns als einen Akt des Egoismus. Und doch macht diese Form der Selbstbezogenheit in dieser Situation Sinn. Um für ihr Kind da sein zu können, müssen die Eltern unbedingt handlungsfähig bleiben. Ansonsten droht die Gefahr, dass sie wegen eines Sauerstoffmangels bewusstlos werden, bevor sie ihrem Kind helfen können. Sich die Maske zuerst aufzusetzen, ist also ein Akt des Egoismus, der durchaus dem eigenen Überleben dient, sich aber noch stärker in der Fürsorge für das eigene Kind begründet. Von ähnlicher Beschaffenheit ist auch der Energieversorgungs-Egoismus unseres Gehirns.
Von medizinischer Seite wurde diese Selbstsüchtigkeit des Gehirns bisher bei der Betrachtung des allgemeinen Stoffwechsels nicht berücksichtigt. Der grundlegend neue Blick auf die Energieversorgung des Gehirns ist die essentielle Erkenntnis der Selfish-Brain-Theorie, deren Grundlagen ich vor über zehn Jahren formuliert habe. 2004 wurde mit Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ( DFG ) an der Universität zu Lübeck die Klinische Forschergruppe »Selfish Brain« eingerichtet. Ihr gehören 38 Wissenschaftler und 100 Doktoranden der Fachbereiche Neuroendokrinologie, Pharmakologie, Psychiatrie, Innere Medizin, Neurologie, Biochemie, Chemie, Mathematik und Hirnforschung an. Zu den Forschungsgebieten gehört zum Beispiel:
Eine Alzheimerstudie (mit Tau-Protein-Messungen soll festgetellt werden, welche Rolle die Energieversorgung des Gehirns bei der Entstehung von Alzheimer spielt).
Erforscht wird aber auch mit High-Tech-Methoden der Stoffwechsel von Hirnzellen unter Laborbedingungen, der Hirnstoffwechsel bei dicken oder depressiven Menschen.
Mit Stress-Experimenten wird der Zusammenhang zwischen Hirnfunktionen, Essverhalten und Stressreaktionen bei dicken und dünnen Menschen untersucht, die inzwischen experimentell belegen konnten, dass das Gehirn von allen Organen des Menschen am meisten Energie in Form von Glukose braucht, die es primär aus dem Körper anfordert.
Diese und viele andere Studien (auf einige werde ich im Verlauf des Buches zu sprechen kommen) machen deutlich, welche immense Bedeutung der Hirnenergiestoffwechsel hat – nicht nur für unser Gehirn, sondern auch für unser Leben, für unsere Gesundheit und auch für die Frage, welche Ursachen für Gewichtszunahme verantwortlich sind.
Energie anfordern – klingt einfach, aber wie setzt das Gehirn sich durch?
Kehren wir noch einmal ins Restaurant zurück. Was braucht der Gast, um ein Essen serviert zu kommen? Er muss es bestellen und bezahlen. Geld ist also die Voraussetzung, um in einem Restaurant mit Nahrungsenergie versorgt zu werden. Ähnlich wie der Gast gibt also auch das Gehirn eine Bestellung auf, wie aber setzt es seine Forderung durch? Ganz sicher nicht mit Geld. Überhaupt geht es hier nicht um Bezahlung. Vielleicht eher darum, die Daumenschrauben anzulegen, um Erpressung? Alles wahrlich keine positiven Begriffe, und wohl auch nicht ganz zutreffend, aber das Vorgehen des Gehirns geht durchaus in diese Richtung. Unser Gehirn ist in der Lage, Energie aus dem Körper-Restaurant mit Nachdruck zu fordern, ja regelrecht Druck auszuüben, um seinen absoluten Anspruch auf Glukose – beziehungsweise auf das daraus erzeugte Laktat – durchzusetzen. Dazu benötigt unser Kontrollorgan einen »ausführenden Arm«. Es bedient sich einer seiner stärksten Kräfte, die im menschlichen Organismus wirken: des Stresssystems (mit den Stresshormonen Adrenalin und Cortisol), das den Auftrag erhält, bei Bedarf Brennstoff für das Gehirn aus den Körperspeichern zu beschaffen. Diese Funktion des Stresssystems – aktiv Energie fürs Gehirn aus dem Körper zu ziehen – bezeichnet man als »Brain-Pull«. Das Stresssystem spielt also eine entscheidende Rolle bei der Energiebeschaffung des Gehirns. Und unser Gehirn kann uns mit Hilfe von Stresshormonen ganz schön nerven, wenn die Energielieferungen des Körpers nicht zufriedenstellend sind. Deshalb
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