Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
biografische Hintergrund Harrys und das damit verbundene Identifikationspotenzial für viele Leserinnen und Leser: Harrys familiäre Verhältnisse sind schwierig, er fühlt sich von den Menschen, bei denen er lebt, ungeliebt und unverstanden. Er hat schon früh das Trauma einer Trennung erlebt.
Solche Lebensumstände in einer Kindheitsbiografie bezeichnen Stressforscher als »Kindheitsbelastungen« (engl. »childhood adversities«). Ronald C. Kessler und William J. Magee von der Universität Michigan haben anhand zahlreicher Forschungen eine allgemeingültige Liste der verschiedenen Formen von schwerwiegenden Belastungen in der Kindheit zusammengestellt:
Psychische Erkrankung eines oder beider Elternteile
Alkoholprobleme eines oder beider Elternteile
Ernsthafte Eheprobleme
Scheidung oder Trennung der Eltern
Tod eines oder beider Elternteile
Das Fehlen einer innigen und vertrauten Beziehung zu den Eltern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen
Selbst Zeuge oder Opfer familiärer Gewalt geworden zu sein
Körperliche oder sexuelle Misshandlung
Vernachlässigung
Eine Kindheit in sozial-ökonomisch instabilen Verhältnissen.
Im Fall von Harry Potter treffen gleich drei Kriterien zu (die Punkte 5 , 6 und 9 ), und wenn wir ehrlich sind, kennt wohl jeder von uns Kinder, deren Leben und Erleben von mindestens einem dieser Faktoren geprägt wird. Weltweite Untersuchungen sowohl in armen wie in reichen Ländern zeigen, dass schwerwiegende Kindheitsbelastungen gar nicht so selten sind: Tod eines Elternteils lag im Durchschnitt bei 13 Prozent der untersuchten Kinder vor, körperliche Misshandlung bei 8 Prozent, familiäre Gewalt bei 6 Prozent und eine psychische Erkrankung eines Elternteils ebenfalls bei 6 Prozent der Kinder. Und das sind nur die dokumentierten Fälle. Die Dunkelziffern sind hier schwer einzuschätzen. Kinderärzte, Soziologen und Stressforscher sprechen deshalb sogar schon von einer epidemischen Entwicklung von schwerwiegenden Kindheitsbelastungen, die in dem Maße zunimmt, in dem familiäre Strukturen brüchig oder dysfunktional werden oder gänzlich verschwinden. Mit anderen Worten: Für immer mehr Kinder und Jugendliche bedeutet das Kindsein (nach der Definition von Kessler und Magee sind die Lebensjahre vor Vollendung des 16 . Geburtstages entscheidend), belastenden Lebensereignissen ausgesetzt zu sein, die von so großer Intensität oder Dauer sind, dass die meisten von ihnen diese als toxischen Stress erleben.
Über Auswirkungen von toxischem oder chronischem Stress haben wir bereits im Kapitel »Beipackzettel für Diäten?« einiges erfahren. Wir wissen, dass es für unser Gehirn zwei Wege gibt, auf Dauerstress oder traumatisierenden Stress zu reagieren: Beim Stresstyp A führen Dauerbelastungen oder überwältigende Stresserlebnisse zu permanent oder wiederkehrend erhöhten Werten der Stresshormone und zu erhöhter Gefahr von Stressfolgeerkrankungen. Beim Typ B passt sich das Stresssystem an, mit der Folge, dass der Hirnstoffwechsel ausgeglichen bleibt, aber das Körpergewicht zunimmt.
Je früher die Stressbiografie einsetzt, desto gravierender sind die Auswirkungen
Was bedeutet also toxischer Stress im Kindesalter vor diesem Hintergrund? Bei den meisten Menschen zeigen sich die ersten Auswirkungen chronischer Stressbelastungen ab dem zweiten oder dritten Lebensjahrzehnt. Wer allerdings schon in der Kindheit toxischem Stress ausgesetzt ist, beginnt auch mit seiner Stressbiografie wesentlich früher. Und es kommt noch schlimmer: Erlebt eine Schwangere toxischen Stress, gibt sie diesen mit hoher Wahrscheinlichkeit an ihr ungeborenes Kind weiter. Toxischer Stress und die damit verbundene Gewichtszunahme kann sogar epigenetisch weitervererbt werden (dieser Sachverhalt wird in meinem ersten Buch »Das egoistische Gehirn« vertieft).
Die steigende Zahl von Kindern, die früh dick werden, ist also im Wesentlichen ein Ausdruck von wachsendem toxischen Stress im häuslichen oder gesellschaftlichen Umfeld. Betroffene Kinder, die dem B-Typ angehören, entwickeln eine zum Teil deutliche Zunahme an Körpergewicht. Dramatische Gewichtszunahmen nach einer sexuellen Misshandlung sind Ärzten seit Langem bekannt. Belastete Kinder, die zu den A-Typen gehören, sind schwerer zu erkennen. Sie bleiben schlank, obwohl ihr Stresssystem dauerhaft unter Last ist. Hier könnte es Zusammenhänge mit Verhaltensauffälligkeiten wie Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivität oder einem verstärkten Hang zum Alkohol-
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