Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
unter schwierigen Lebensumständen sicherzustellen. Wird das Nahrungsangebot drastisch reduziert, bleiben dem Gehirn nur zwei Möglichkeiten:
Erstens einsparen. Um mit weniger Energie auszukommen, fährt es seine Leistung deutlich runter. Dies hat zur Folge, dass im Rahmen einer auftretenden »Neuroglukopenie« viele Funktionen nur noch eingeschränkt verfügbar sind: Abnahme der Wachheit (das Gehirn ermüdet schneller, Schläfrigkeit und Erschöpfung sind typische Folgen) und das Nachlassen der Konzentration sind auffällige Symptome. Hier gibt es einen Hinweis auf ein weiteres mögliches Risiko nach bariatrischen Operationen: Die Pennsylvania-Studie zeigt neben dem erhöhten Suizid-Risiko auch, dass operierte Menschen häufiger durch einen Unfall ums Leben kommen.
Zweitens gestresster leben. Die einzige verbleibende Alternative zu Neuroglukopenie besteht darin, das vor der Operation durch Habituation ruhiggestellte Stresssystem unter der Last des eingeschränkten Nahrungsangebotes wieder massiv hochzufahren, um die nötige Energie fürs Gehirn aus den Reserven des Körpers zu ziehen. Tatsächlich ist dokumentiert, dass bei Adipositasoperierten die Cortisolwerte im Blut ansteigen. Die Aktivierung des Stresssystems dient dazu, die Energiekonzentration im Gehirn aufrechtzuhalten. Eine zum Teil dramatische Dauerüberlastung des Stresssystems ist eine unausweichliche Nachwirkung einer derartigen Magen- oder Darmoperation. Und dieser plötzlich einsetzende und anhaltende massive Dauerstress, der nicht wie bei anderen Menschen durch erhöhte Kalorienaufnahme wieder verringert werden kann, lässt operierte Menschen immer häufiger zu illegalen Drogen und Alkohol greifen und fördert die Entstehung einer schweren Depression; in der Ausweglosigkeit wächst das Risiko, durch Selbsttötung ums Leben zu kommen.
Es gibt darüber hinaus noch einige weitere mögliche Spätfolgen. Die Patienten leiden nicht selten unter Mangelerscheinungen und müssen lebenslang hochdosiert Vitamine und Mineralienpräparate einnehmen. Oft kommt es bei den Nähten zu Komplikationen, und Nachoperationen werden nötig. Eine Patientin berichtete mir von wöchentlich auftretenden epileptischen Anfällen nach einer derartigen OP . Auch dies ist eine mögliche OP -Komplikation, weil starke Unterzuckerungszustände im Gehirn zu krampfartigen Anfällen führen können. Die Patientin muss seitdem Antiepileptika nehmen, und der Arzt rät ihr vom Autofahren ab. Wie gesagt – dies alles sind nur erste Beobachtungen zu Nebenwirkungen und möglichen Langzeitfolgen. Erst eine groß angelegte randomisierte Studie würde an dieser Stelle Gewissheit bringen.
In letzter Zeit erhalte ich immer öfter Anfragen von Menschen, denen zu einer bariatrischen Operation geraten wurde und die wissen wollen, welcher Weg richtig ist. Vor allem für sie und für alle anderen, die vor einer derartigen Entscheidung stehen, habe ich dieses Kapitel verfasst. Wer sich zu diesem Schritt entschließt, sollte das volle Spektrum der Risiken – wie ich sie hier in ihren Kernpunkten dargelegt habe – kennen, und er sollte bedenken, dass eine derartige Operation am Magen oder Darm nie mehr rückgängig zu machen ist (in jüngster Zeit wird mit einem »Endobarrier«-Verfahren experimentiert, bei dem der Darm mit einer Art Kunststoff ausgekleidet wird; dieses Verfahren basiert auf dem gleichen Ansatz der »künstlichen Beschränkung des Nahrungsangebotes« wie die bariatrische Chirurgie, ist also mit den gleichen ernstzunehmenden Risiken und Nebenwirkungen behaftet; Endobarriers ließen sich immerhin aber wieder entfernen). Für den Patienten bedeutet dies nichts weniger, als dass er mit dem Zustand, in dem er sich nach der Operation befinden wird, für den Rest seines Lebens zurechtkommen muss. Vergleichbar ist dieser Zustand mit dem eines Menschen, der lebenslang zu einer Diät gezwungen wird und dem so die benötigten Kalorien verwehrt werden. Natürlich kann man versuchen, damit irgendwie umzugehen, aber der Preis, den Gehirn und Körper durch Energieknappheit und stressbedingten Gewebeverschleiß zahlen müssen, ist hoch und unvermeidbar.
Unterschrift mit Folgen: Wie ein Formblatt aus einem dicken Menschen einen Palliativpatienten machen kann
Ich habe an dieser Stelle bereits mehrfach eine randomisierte Studie zu bariatrischen Operationen angemahnt und tue dies, wie viele andere Kritiker auch, bereits seit Jahren – bislang vergebens. Da drängt sich die Frage nach dem »Warum«
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