Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
»Health at every size« hat bereits mit einer Gegenkampagne geantwortet: »WIR STEHEN für Menschen jeden Alters, um deutlich zu machen, dass der Körperumfang weder Schönheit noch Gesundheit beeinträchtigt…«
In den USA hat 2012 eine Kampagne gegen »Übergewicht bei Kindern« für Aufsehen gesorgt. In Anzeigenmotiven werden Fotos von dicken Kindern mit Warnhinweisen versehen, wie man sie in Gestaltung und Diktion von Zigarettenpackungen kennt: » FETTE KINDER WERDEN FETTE ERWACHSENE « oder: » MOPPELIGE KINDER WERDEN IHRE ELTERN WAHRSCHEINLICH NICHT ÜBERLEBEN .« Initiiert wurde die Kampagne von Regierungsstellen des US -Bundesstaates Georgia, in dem besonders viele Minderjährige mit hohem Körpergewicht leben: 4 0 Prozent aller Kinder und Jugendlichen gelten dort als »übergewichtig«. Die Aktion hat in den USA eine heftige Debatte ausgelöst, ob man Fotos von Kindern (es gibt dazu auch TV -Spots mit den Kindern) derart offensiv und aggressiv verwenden darf. Die Befürworter verweisen dabei auf den Schockeffekt, der vor allem die offenbar als unwissend eingeschätzten Eltern aufrütteln soll, ihre Kinder nicht derart mit Kalorien vollzustopfen. Selbst Kritiker der Aktion stellen nicht in Frage, ob die Absichten der Macher überhaupt gut und richtig sind. Sie befinden lediglich die propagandistischen Mittel als fragwürdig.
Die Diskussion macht das eigentliche Dilemma deutlich. In ihrer Rat- und Hilflosigkeit greifen Gesundheitsbehörden zu immer drastischeren Mitteln der »Aufklärung«, um eine Gewichtsepidemie unter Kindern einzudämmen, ohne sich um die Ursachen zu kümmern; und sie offenbaren so ihre eigene eklatante Unwissenheit. Das erklärte Ziel lautet: Abspecken um jeden Preis. Doch wie hoch ist dieser Preis tatsächlich?
Georgia ist einer der US -Bundesstaaten mit überdurchschnittlich starkem Armutsgefälle in der Bevölkerung, die Arbeitslosigkeit ist dementsprechend hoch, die Kriminalität auch, Rassendiskriminierung ist besonders ausgeprägt. Alles gravierende psychosoziale Stressfaktoren, die vor allem die Schwächsten treffen – die Kinder und Jugendlichen. Wie bereits im Kapitel »Niemand ist eine Insel« gezeigt, stehen die USA im internationalen Vergleich sowohl bei der Häufigkeitsrate von dicken Menschen in der Bevölkerung als auch bei der Größe der Einkommensdisparität an erster Stelle. Aber das ist nur ein Teil des Bildes: Denn selbst innerhalb der USA gibt es diesbezüglich unter den 50 US -Bundesstaaten ein starkes Gefälle: Hier belegt beispielsweise New York den traurigen Spitzenplatz. Die Schere zwischen Arm und Reich hat dort ein bizarres Ausmaß angenommen. Dabei gelang es den beiden Epidemiologen Wilkinson und Pickett, in ihren detaillierten Studien aufzuzeigen, dass sich der von ihnen beschriebene Zusammenhang zwischen »Übergewichts«-Häufigkeit und Einkommensdisparität auch beim Vergleich der 50 US -Bundesstaaten untereinander wiederfinden lässt. So rangiert Georgia – der Bundesstaat, der mit seiner krassen »Aufklärungskampagne« in die Kritik geriet – nicht nur bei der Häufigkeitsrate dicker Kinder, sondern auch bei der Einkommensungleichheit im internen US -Vergleich im oberen Viertel. Statt also das Problem ursächlich zu bekämpfen und für Kinder ein Leben und ein Umfeld zu schaffen, in dem mehr soziale Gerechtigkeit herrscht und sie weniger Stress ausgesetzt sind, findet jetzt ausgerechnet in Georgia diese Medienkampagne statt, in der von betroffenen Kindern (und ihren Eltern) verlangt wird, ihren Lebensumständen einen weiteren massiven Stressor hinzuzufügen – Nahrungsbeschränkung. Und weil das immer noch nicht reicht, wird Dicksein in der drastischen Darstellung der Kampagne stigmatisiert. So werden Kinder, die sich aufgrund ihres Körpergewichts wahrscheinlich sowieso schon als benachteiligt empfinden, öffentlich zu Außenseitern der Gesellschaft erklärt. Stress, noch mehr Stress und noch mehr Stress sind zwangsläufig die Folge. Was ist, wenn die Kinder nicht dünner werden? Und alle Statistiken zeigen ja, dass damit nicht zu rechnen ist. Anzunehmen, dass man diesen globalen Gewichtstrend, der sich bereits seit fünfzig Jahren ausbreitet, mit einer Plakatkampagne beeinflussen kann, zeugt von grenzenloser Naivität. In Wahrheit sieht es so aus: Die dicken Kinder von Georgia werden auch nach dieser öffentlichkeitswirksamen Zurschaustellung nicht schlanker, sondern müssen mit ihrem dicken Körper weiterleben – nur sind sie dann noch
Weitere Kostenlose Bücher