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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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dazu gebracht werden konnten, absurde Überzeugungen zu entwickeln und furchtbare Verbrechen zu begehen und diese dann mit religiösen, ethnischen oder ideologischen Gründen zu rechtfertigen.
    Selbst die größten Verbrecher, die sie getroffen hatte, Menschen wie Radovan Karadžić oder die Glaubenskrieger der Al-Shabaab und von al-Qaida, waren überzeugt, ihre Taten wären völlig gerechtfertigt. MacLoughlin wollte es sich nicht so einfach machen, sie als verrückt oder als böse zu betrachten. Es gab immer Ursachen. Nur dass sie eben woanders lagen, als allgemein behauptet wurde.
    „Nun“, sagte d’Albret. „Wir unterstellen bei solchen Verbrechen den Einfluss des Bösen. Und mithilfe der christlichen Moral, die uns das Wort Gottes …“
    „Sekunde“, warf MacLoughlin ein. „Die Bibel vermittelt uns also unsere Moral.“
    „Natürlich“, bestätigte d’Albret. „Wir sprechen doch nicht ohne Grund von christlichen Werten.“
    MacLoughlin spielte mit Haigtielte marsträhnen aus dem Pferdeschwanz, der ihr über die Schulter gefallen war. „Dann hatte Fjodor Dostojewski recht, als er feststellte: ‚Wenn Gott nicht existierte, so wäre alles erlaubt‘?“
    „Sicher. Sogar Sartre hat gesagt, dass es ohne Gott nichts von vornherein Gutes mehr geben kann. Wenn Gott nicht existiert, sagt er, so finden wir uns keinen Werten, keinen Geboten gegenüber, die unser Betragen rechtfertigen.“
    „Sartre hat offenbar lieber Dostojewski gelesen als Darwin.“ MacLoughlin grinste. Sie rieb sich die von Stichen übersäten Unterschenkel. „Meinen Sie also, alle Atheisten seien sittenlose Lumpen?“
    „Na ja. Aber ohne den Glauben an ein Gewissen lässt sich keine Ethik formulieren.“
    „Wieder Dostojewski.“ MacLoughlin legte den Finger auf den Mund.
    „Richtig. Ohne Gott gäbe es nichts Unsittliches mehr“, zitierte der Priester. „Alles wäre erlaubt, sogar Menschenfresserei.“
    MacLoughlin lachte leise. „Schauen wir mal in die Bibel. Ins dritte Buch Mose etwa, wo Gott den Israeliten droht: ‚Ihr esst das Fleisch eurer Söhne und Töchter.‘“ Sie warf den Pferdeschwanz über die Schulter zurück. „Da sagt Gott: ‚Ich werde euch zwingen, eure Kinder zu fressen.‘ Menschenfresserei.“
    D’Albret versuchte, etwas zu sagen, doch die Journalistin hob die Hand.
    „Bitte, einen Augenblick noch“, sagte MacLoughlin. „Von wegen Moral: Gott nimmt sogar Menschenopfer an. Ebenfalls im Buch Mose erklärt Gott: ‚Kein menschliches Wesen, das als Banngut geweiht wird, kann zurückgekauft werden; man muss es töten.‘ Sklaven, die als Opfer vorgesehen sind, müssen also geopfert werden.“
    „Sie picken sich schlimme Stellen heraus, immer aus dem Alten Testament. Für uns gilt heute das Wort Jesu und seine Botschaft der Liebe und der Nächstenliebe.“ D’Albret streckte beide Zeigefinger in die Luft. „Sie und das Gebot, Gott zu lieben, sind die wichtigsten Gebote des Christentums.“
    Der Mond trat hinter den Wolken hervor. Sein Licht brach sich in den Wellen des Río Sillay wie in einem unaufhörlich zerbrechenden Spiegel. In der Nähe bellte ein Hund. Es klang wie: „Ich bin noch da. Wo seid ihr?“ Einer seiner Artgenossen antwortete von der anderen Seite des Dorfes.
    „Was sollen wir nun mit der mörderischen Moral des Alten Testaments tun?“, fragte die Journalistin. „Sind wir uns etwa einig, dass der Gott des Alten Testaments unmoralisch ist, gemessen an den Maßstäben der christlichen Religion?“
    D’Albret schlang die Arme um die Brust. „Wie kann Gott unmoralisch sein? Er steht über der Moral. Wir können uns da kein Urteil erlauben.“
    „Und damit sind Sie zufrieden?“ MacLoughlin schaute den Priester forschend an. „Christen haben den Anspruch zu wissen, was moralisch ist, weil die Bibel sie das lehrt. Aber Sie können diese Moral nicht auf den Inhalt dieses Buches selbst anwenden?“ Sie legte dem Priester die Hand auf die Schulter. „Jetzt geben Sie mir mal eine ehrliche Antwort. Ist es unmoralisch oder nicht, ganze Stämme auszurotten, deren Jungfrauen zu versklaven, Städte inklusive Säuglinge und Kleinkinder auszuradieren? Oder die gesamte Weltbevölkerung sowie sämtliche Tiere und Pflanzen, ausgenommen die Passagiere der Arche Noah?“ Sie schüttelte den Kopf. „Gott hat kein Problem mit Sklaverei, Massenmord, Säuglingsmord, er…“
    „Wenn Sie fragen, ob Gott moralisch ist oder nicht, dann gehen Sie davon aus, Moral sei unabhängig von Gott“, fiel d’Albret

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