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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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die ihn zu Yvonne zog. Er war sich inzwischen noch sicherer, Yvonne aufrichtig zu lieben, als er es schon in Génicourt gewesen war. Der große Abstand und die Zeit, die er gehabt hatte, um sich von ihr zu lösen, zeigten keine Wirkung. In Frankreich hatte noch der Verdacht an ihm genagt, er würde nur seine primitiven männlichen Bedürfnisse vor sich selbst verschleiern, wenn er seine Gefühle Liebe nannte. Die Stärke dieser Bedürfnisse konnte er nicht leugnen – schon gar nicht nach dem, was in Sevilla passiert war. Aber er sehnte sich nicht nur danach, mit Yvonne zu schlafen. Da war viel mehr.
    Wenn er MacLoughlin anschaute, spürte er etwas völlig anderes. Er war sich ihrer Attraktivität objektiv bewusst. Aber die berührte ihn nicht. Er fühlte sich intellektuell angezogen. Das allerdings außergewöhnlich stark. Die Gespräche mit dem Kardinal und dann mit der Journalistin hatten so viele Fragen in ihm ausgelöst. Er war nicht überzeugt, dass MacLoughlin die richtigen Antworten gab. Aber sie gab ihm reichlich Stoff zum Nachdenken.
    Als die Missionare sich für die Nacht verabschiedet hatten, ging er zu der Journalistin hinüber, die auf einem Baumstamm am Lagerfeuer vor der Hütte saß, in der sie übernachten würden.
    „Tut mir leid, dass York Sie nicht mitnehmen will“, sagte er.
    MacLoughlin schlug die Beine übereinander. „Danke.“ Sie klopfte mit den Knöcheln auf den Baumstamm. „Wollen Sie sich nicht setzen?”
    D’Albret ließ sich neben ihr nieder. „Nach unserer Unterhaltung gehen mir übrigens einige Fragen durch den Kopf.“ Er schaute sie von der Seite an. „Sie behaupten, Moral käme nicht aus der Bibel. Woher kommen unsere Werte dann?“
    MacLoughlin pulte an ihren Fingernägeln herum. Dann setzte sie sich auf dem Holzstamm zurecht, der quer vor dem Feuer lag. „Das wichtigste Gebot, das Christen für christlich halten, ist die Goldene Regel: ‚Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!‘ Ähnliche Gebote finden sich im Hinduismus, Buddhismus, Taoismus, Zoroastrianismus und bei Konfuzius.“
    Sie beobachtete eine Ameise auf ihrem Schuh. Als das Tier in ihr Hosenbein klettern wollte, schnippte sie es vorsichtig weg.
    „Das stecte >„Daskt auch in Kants kategorischem Imperativ: ‚Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.‘ Kant glaubte, dass es ein moralisches Grundprinzip im Menschen gibt.“
    „Das von Gott kommt.“ Der Priester strich sich nachdenklich über den Mund. „Schon das schlechte Gewissen ist doch ein Argument für die Existenz Gottes. Wir ärgern uns vielleicht über Fehler, aber bei moralischen Verfehlungen bekommen wir Gewissensbisse …“
    MacLoughlin lachte. „Weil ein höheres Wesen die Zähne in unser Gewissen schlägt?“ Sie zog die Füße auf den Baumstamm und schlang die Arme um die Knie. Vor ihnen raschelte etwas Kleines im Gras.
    „So ungefähr.“ D’Albret stimmte in ihr Lachen ein. Der Priester schob einen Holzklotz ins Feuer.
    MacLoughlin hob abwehrend die Hand. „Also, was ich eigentlich sagen wollte, ist: Moral hat ihre Wurzeln nicht in der Bibel, sondern im Menschen. Und wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, dann habe ich etwas getan, von dem ich in der Familie, der Gesellschaft und Kultur gelernt habe, dass man es nicht tut.“
    „Aber haben Sie Ihre Moral nicht in einer christlich geprägten Gesellschaft gelernt?“, fragte d’Albret.
    „In der Tat“, sagte MacLoughlin leise. „Nordirland war und ist geprägt durch einen blutigen Konflikt zwischen katholischen Christen und protestantischen Christen.“
    D’Albret rutschte unbehaglich auf dem Stamm herum. „Sie wissen, was ich meine.“
    Etwas klatschte auf die schwarze Wasseroberfläche des Flusses. Plötzlich wurde d’Albret sich des beständigen Flüsterns des Wassers wieder bewusst. Außerhalb des Lichtscheines, den das Feuer warf, schien die tiefe Finsternis alle menschlichen Wesen außer ihm und MacLoughlin verschluckt zu haben.
    Sie fuhren zusammen, als eine Stichflamme zischend aus dem Holzklotz fuhr, den d’Albret ins Feuer gelegt hatte.
    Einzelne Sterne blinkten zwischen den Wolken auf, die den schwarzen Himmel bedeckten. Unvermittelt beschlich d’Albret das Gefühl, etwas hätte sich verändert. Eine neue Note hatte sich in das Murmeln des Flusses geschlichen. Er stand auf, machte einige Schritte aus dem Lichtkreis des Feuers und starrte auf den Río Shihuarai hinaus. Langsam

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