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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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„Das hört sich sehr konstruiert an.“
    „Na, denken Sie einfach mal drüber nach“, antwortete MacLoughlin. „Und strahlen Sie sich nicht selber so von unten an, das sieht wirklich gruselig aus.“
    „Aber heute treffen wir vor allem auf Menschen, die mit uns nicht verwandt sind und von denen wir nicht wissen, ob sie sich für gute Taten revanchieren werden.“ D’Albret stolperte, und die Journalistin lief auf ihn auf.
    „Entschuldigung“, sagte der Priester. „Trotzdem helfen wir uns gegenseitig.“
    „Wenn Sie unser Verhalten verstehen wollen, dann müssen Sie immer daran denken, unter welchen Umständen es sich einmal entwickelt hat“, erklärte MacLoughlin. „Diese Vergangenheit steckt in unseren Genen. Vielleicht verhalten wir uns noch immer so, als würden wir in einem Stammesverband leben, und suchen ständig unbewusst nach Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit anderen. Und dann schließen wir uns zu Pseudofamilien und Pseudostämmen zusammen. Schauen Sie sich um: Sie werden massenhaft davon entdecken.“
    „Was meinen Sie?“, fragte d’Albret. „Vereine und so etwas?“
    „Vereine, Fanclubs, Gemeinden, Pfadfinder, Sekten, Parteien, Umweltschutzgruppen, Völker und Nationen … Die kulturelle Evolution hat die Gesellschaften verändert, in denen wir leben“, sagte MacLoughlin. „Aber unsere Verhaltenstendenzen sind im Prinzip noch die gleichen. Deshalb konnte sich das nützliche Prinzip, dem Nächsten zu helfen – also den Verwandten und Stammesangehörigen –, im entsprechenden kulturellen Umfeld zum allgemeinen Gebot der Nächstenliebe entwickeln.“
    Sie erreichten das Dorf. Ein niedriger Schatten näherte sich über den Lehmboden. Ein Hund, der sie kurz ankläffte und sich dann unter die Hütten zurückzog.
    Erleichtert darüber, zurück zu sein, gingen sie leise zum Lagerfeuer hinüber und ließen sich auf den Baumstämmen nieder.
    Das Feuer war noch nicht ausgegangen. Kleine, bläuliche Flammen huschten über das halb verkohlte Holz. Die Glut strahlte eine gemütliche Wärme aus. „Und auch wenn der letzte Mensch aufgehört hat, an Gott zu glauben, wird es ethisches Denken geben“, sagte MacLoughlin.
    „Wie können Sie nur so sicher sein?“, fragte d’Albret skeptisch.
    „Was verunsichert Sie nur so?“, fragte sie zurück.
    Ratlos dachte der Franzose über die Frage nach. War er unsicher? Natürlich. Und offenbar war es ihm inzwischen deutlich anzumerken.
    MacLoughlin zog sich die Schuhe aus und massierte sich die Füße.
    „Wenn Sie sich hier unter den Shawi umhören“, sagte sie, „und ihnen bestimmte moralische Dilemmata beschreiben – zum Beispiel den Fall, dass sie mehrere Menschenleben retten könnten, wenn sie eines opfern –, dann werden Sie feststellen, dass die allermeisten von ihnen es auf die gleiche Weise zu lösen versuchen wie Sie und ich oder ein Chinese, Inder, Iraner oder Uigure. Was schließen wir daraus?“
    „Dann hat Gott allen Menschen die gleiche Moral eingepflanzt“, antwortete d’Albret.
    MacLoughlin hob die Hand. „Das war wohl nicht notwendig. In seiner Evolution hat der Mensch offenbar einen natürlichen Moralinstinkt entwickelt.“
    D’Albret zog die Augenbrauen in die Höhe. „Aha?“
    „Es gibt“, erklärte MacLoughlin, „Hinweise darauf, dass Menschen schon mit gewissen Konzepten von Fairness und einer allgemeinen ethischen Grammatik zur Welt kommen. Auf dieser Grundlage konnte sich ein breites Spektrum verschiedener, aber doch in vielen Punkten übereinstimmender moralischer Systeme entwickeln. Manche Wissenschaftler vermuten deshalb, dass es eine Art Moralzentrum im Gehirn gibt, ähnlich dem Sprachzentrum, mit dem en um, mitwir Sprache erlernen. Das jeweilige Feintuning übernehmen in der sensiblen Phase der Kinder die Eltern und die Institutionen der Gesellschaft. Das passt zur Evolutionstheorie. Für Ihre Vorstellung vom göttlichen Einfluss finden sich dagegen keine stichhaltigen Belege“, sagte die Journalistin.
    „Vielleicht ist dann dieser Moralinstinkt von Gott“, stellte d’Albret energisch fest. „Und der Vatikan hat die Evolutionstheorie ja anerkannt. Die Erkenntnisse der Wissenschaftler lassen sich mit der Existenz Gottes in Übereinstimmung bringen.“
    „Na ja, Sie nehmen die Erkenntnisse und fügen dann immer Gott irgendwie hinzu, um Ihren Glauben zu retten. Papst Pius XII. hat das ja fast schon zugegeben: Der Körper des Menschen kann ein Produkt der Evolution sein, aber der katholische Glaube zwingt

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