N. P.
– genau wie im Film.
»Dreh dich nicht um!« sagte eine dünne Frauenstimme.
»Geld her!«
Instinktiv wußte ich sofort, daß das kein echter Überfall war. Eine Verrückte, schoß mir nur durch den Kopf. Das Piepsen, mit dem der Automat die Geldausgabe signalisiert, drang an mein Ohr, und ziemlich nervös streckte ich die Hand vorsichtig nach den Scheinen aus. Die Computerstimme bedankte sich.
»Beruhige dich, ist doch bloß mein Finger!« lachte es hinter mir, und die Hand wurde weggezogen.
»Mensch, Saki, hast du mich erschreckt!« wollte ich schon sagen. Ich dachte tatsächlich, es wäre Saki. Komischerweise. Aber ich lag völlig daneben. Als ich mich umdrehte …
… grinste mich eine wildfremde Frau an.
Ich bekam natürlich noch mehr Angst. Nie werde ich vergessen, wie ich zum ersten Mal in diese Augen blickte, die mich musterten, als wollten sie bis in die hintersten Winkel von mir vordringen. Diese absolut transparenten Augen – Sirius, der in der Ferne des Nachthimmels funkelt, ein perfekt gerührter Martini Dry, der Licht ins Cocktailglas zwingt.
Ich überlegte, was wohl dieses erwachsene Gesicht mit den Augen eines Neugeborenen wahrzunehmen imstande war, welche Gedanken dahinter entstehen könnten. Ich spürte Angst – ob man das nun verstehen kann oder nicht.
Merkwürdig sah sie aus. Einen Menschen wie sie hatte ich noch nie gesehen. Sie war keine ausgesprochene Schönheit, nicht einmal besonders hübsch. Aber sie hatte dieses gewisse Etwas. Den Reiz der aufflackernden Intuition eines wilden Tieres, einer geballten Ladung archaischer Intelligenz.
Ich starrte sie an, studierte sie.
Dünnes, langes, schwarzes Haar.
Ein magerer Körper, am Hals traten die Sehnenstränge vor. Sie hatte einen großen Mund, war etwas schlacksig und trug ein weißes Männerhemd. Man sah die Umrisse ihres kleinen, wohlgeformten Busens. Die knapp den Hintern bedeckenden Shorts gaben unerwartet üppige, sinnliche Beine frei, die barfuß in knallgelben Badeschlappen endeten. Ihre Fußnägel waren rot lackiert.
Zumindest im Sinn für Sommer schienen wir uns zu vertragen. Das Outfit stimmte jedenfalls.
»Wir sehen ja aus wie Zwillinge!« sagte sie.
»Wer bist du?« fragte ich.
»Sui Minowa. SUI MINOWA. Und du bist Kazami Kanō.«
»Ja, aber … Wer bist du?«
»Das weißt du doch.«
Freundlichst lächelnd und mit exakt derselben Geschwindigkeit wie die Außerirdischen in »Unheimliche Begegnung der dritten Art« streckte sie ihren langen, dünnen Arm nach mir aus, und als ich antwortete: »Bedauerlicherweise nicht«, ergriff sie meine rechte Hand und zog mich hinter sich her: »Komm, wir reden im Auto weiter.«
»Moment mal!« protestierte ich und versuchte, mich loszureißen, doch entgegen dem fragilen Eindruck, den sie machte, war sie stark und ließ absolut nicht locker. Ihre Hand war schon fast unangenehm heiß.
Ich wurde ziemlich deutlich: »Tut mir leid, aber mit jemandem, den ich nicht kenne, geh ich nicht mit.« Sie zögerte einen Moment, entgegnete dann aber: »Und wenn wir alte Bekannte wären?« Den Spruch kannte ich bereits!
»Aber ich hab dich noch nie gesehen!« sagte ich.
»Hat dir Otohiko denn gar nichts erzählt?« fragte sie verblüfft. Natürlich. Otohikos Flamme, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Gerade wollte ich sagen: »Ach, du bist das!«, als sie meinte: »Ich bin eine Halbschwester von den beiden.«
»Was?!«
Weiter wußte ich nichts zu sagen, ich war vollkommen baff. Dann wurde mir allmählich der dunkle Punkt klar, um den die Takase-Zwillinge, die sonst nicht auf den Mund gefallen waren, immer wie um den heißen Brei herumgeredet hatten.
»Das wußte ich nicht«, sagte ich endlich.
»Warum verheimlichen die das bloß?« sagte sie. »Weil ich mit Shōji zusammen war vielleicht? Oder weil ich ihm die achtundneunzigste Erzählung aus N.P. gegeben habe? Hat er sich deswegen umgebracht?«
»Vielleicht« und »umgebracht« gerieten ihr etwas zu melodramatisch. »Oder aber, weil es unanständig ist, daß ich jetzt mit Otohiko zusammen bin?«
Das war tatsächlich ein Schock.
»Ja, aber ihr seid doch blutsverwandt«, sagte ich. »Ist es denn wirklich wahr, daß du auch eine Tochter von Sarao Takase bist?«
Sui nickte.
»Entschuldige, aber dein Nachname, Minowa – ist denn deine Mutter Japanerin?«
»Ja, Vater scheint auf Japanerinnen gestanden zu haben. Meine Mutter lebt drüben. Ich hab zwar schon lange keinen Kontakt mehr zu ihr, aber daß sie Japanerin ist, weiß ich
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