N. P.
Still saßen hier und da Angler am Ufer. Mütter spielten mit ihren Kindern in einem kleinen Sandkasten.
Sui saß mit angezogenen Knien auf der Bank und schaute nicht auf den See, sondern weit weg in die Wolken.
»Aber warum habt ihr eigentlich nicht daran gedacht, für immer in Boston zu bleiben? Weil ihr japanische Staatsbürger seid?«
»Das auch, ja, aber … wie soll ich sagen, wir haben zwischendurch den Überblick verloren.« Sui schien in ihren Erinnerungen zu kramen. »Eigentlich sind wir ja nach Boston gegangen, um dieses miese Gefühl zu verdrängen, daß wir Geschwister sind – Tapetenwechsel sozusagen. Nur wir beide, ganz weit weg, verstehst du? Die Leidenschaft hatte uns gepackt. Mir war das Ganze ja zu Anfang ziemlich egal, aber Otohiko nicht. Er ist halt wohlerzogen. Boston ist schön, so mit großem Fluß und allem. Wir sind am Fluß spazierengegangen, haben Bibliotheken besucht, sind Saufen gegangen oder haben uns am Hafen die Schiffe angeguckt – zwei Verliebte im siebten Himmel. Aber irgendwie hat sich so was wie Stress aufgestaut. Immer öfter wurde ich mitten in der Nacht plötzlich wach. Wenn uns einer fragte, ob wir verheiratet wären, oder wenn wir ein altes Ehepaar im Park sahen, vermieste uns das die Stimmung. Wir fühlten uns wie auf der Flucht! Zu Anfang hat das ja noch Spaß gemacht, aber mit der Zeit … wenn ich seine Hand ganz fest drückte, sah er mich nur an, mit seinen traurigen Augen. Ich dachte, wenn er jetzt nur lachen würde – alles wäre gut. Aber er lachte nie. Allmählich kam er mir weiter weg vor als ein Fremder, dabei war er doch mein Bruder! Das konnte ja nicht gutgehen – wenn ich jetzt so drüber nachdenke, mein ich. Bis jetzt hab ich aber noch nie ernsthaft drüber nachgedacht. Wo ich doch auch mit meinem Vater geschlafen hab.«
»Dann bist also du …«, sagte ich.
Es dauerte eine Weile, bis Sui sich mir zuwandte und begriff, was ich nicht ausgesprochen hatte. »Ja, das Mädchen aus der achtundneunzigsten Erzählung, das bin ich.«
»Endlich wird mir alles klar«, sagte ich. »Fühlst du dich nur zu Blutsverwandten hingezogen?«
»Nee, wie kommst du denn darauf? Zumindest mit Shōji war ich nicht verwandt!«
»Das ist wahr.« Ich nickte. Immer, wenn jemand Shōjis Namen ausspricht, kommt es mir vor, als mische sich sein Bild in die Szenerie vor meinen Augen. Besonders bei solchen Situationen im Freien ist das so. Mit dem Klang seines Namens kann Shōjis Gesicht plötzlich überall zu Hause sein – im kühlen Schatten rauschender Bäume, in der Sommerluft, süß und schwer wie Nebel, auf den Glitzerkräuseln der Wasseroberfläche …
»Auf eine Art sind wir tatsächlich so was wie Schwestern«, lachte ich.
»Wenn du mit Otohiko schlafen würdest, wären wir es noch mehr«, foppte sie mich und lachte.
»Bis jetzt hat sich da noch nichts getan«, antwortete ich. Ihr war wirklich nicht anzumerken, ob sie das nun fürchtete oder wünschte. »Aber wieso hat Otohiko dich mir gegenüber so dargestellt, als müßte man Angst vor dir haben, als wärst du jemand, der mich packen und auffressen will?«
»Der denkt bestimmt, sobald wir uns treffen, nimmt das Schicksal seinen Lauf, wie in alten Überlieferungen. Der Blödmann glaubt an so was«, sagte Sui.
»Dabei passiert gar nichts, oder?«
»Nein, alles bleibt ruhig.«
Wir lauschten still den Geräuschen der Welt. Vogelgezwitscher, Kinderstimmen, ein ferner Schulgong.
»Hast du die achtundneunzigste Geschichte gelesen?« fragte Sui.
»Ja. Sie ist gut. Besonders das Ende.«
»Ja, sogar ich muß weinen, wenn ich das lese. Ich hab meinen Vater ja nur ein paar Mal getroffen, er war verrückt und ein unmöglicher Mensch, aber ich glaube, er hatte mich richtig lieb. Er sagte, er hätte nicht gewußt, daß ich seine Tochter bin, als er mich kennenlernte – genau wie in der Erzählung. Die Ähnlichkeit mit meiner Mutter sei ihm allerdings schon aufgefallen. Ob ich tatsächlich sein Kind bin, weiß ich nicht mal, denn meine Mutter hat ja zwischendurch öfter als Prostituierte gearbeitet. Aber ich hab doch genau seine Augen, oder?« Sprachs und sah mir wieder tief in meine. Mich schauderte. Tief fiel ihr Blick, wie weit, weit hinunter ins dunkle Wasser eines alten Brunnenschachts.
Ich nickte: »Ja, wirklich. Ihn kenne ich allerdings nur von Fotos. – Warum gehst du der Sache eigentlich nicht auf den Grund?«
»Daran hab ich oft gedacht. Aber wenn ich mir nur vorstelle, es käme schließlich raus, daß ich der
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