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N. P.

N. P.

Titel: N. P. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Banana Yoshimoto
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offene Fenster, das Glas Eistee, die Wäsche auf der Leine. Irgendwie hatte ich Sehnsucht nach meinem Zimmer – die herrenlos auf offener See treibende Marie Céleste {4} . Ich vermißte die Person, die ich eben noch gewesen war. Unter den gegebenen Umständen konnte ich ja nicht wissen, wann ich heimkehren würde.
    »Übrigens, willst du wirklich meine Fassung von der achtundneunzigsten Erzählung haben?« fragte ich. »Hast du keine eigene?« Sie schüttelte den Kopf.
    »Willst du dir die Übersetzung mal ansehen?«
    Anstelle einer Antwort sagte sie: »Wohin sollen wir fahren? Zum Meer?«
    »Ist mir jetzt egal. Entscheid du!«
    »Gut, dann fahrn wir zum ›See‹, eigentlich nur ein Teich, aber …«, sagte Sui und antwortete endlich auf meine Frage: »Das, was Shōji übersetzt hat? Das Original brauch ich nicht, aber die japanische Fassung, die möchte ich mal sehen, und wenns nur ein kleiner Abschnitt ist.«
    »Wann ungefähr bist du mit Shōji zusammen gewesen?«
    »Beruhige dich, lange vor dir. Als ich gerade nach Japan gekommen war, kurz nachdem ich Otohiko getroffen hatte, glaub ich. Wie gesagt, ich hab ihn auf dieses Buch aufmerksam gemacht, und ich wars auch, die ihm die achtundneunzigste Erzählung zum Übersetzen gegeben hat«, sagte Sui. »Entschuldige.«
    »Du kannst nichts dafür. Aber daß ich das Buch gelesen hab, geht schon auf dein Konto.« Ich lachte.
    »Das wäre sowieso dein Schicksal gewesen«, sagte sie.
    »Du warst mit Otohiko in Boston?« fragte ich.
    »Ja, zwei Jahre.«
    »Ist zwar nicht so wichtig, aber warum seid ihr gerade jetzt zurückgekommen?«
    »Ich weiß es auch nicht. Ich wollte ja eigentlich dort bleiben, aber wie der Mensch so ist – man kann sich manchmal halt einfach nicht entscheiden.«
    Im Wagen war es zum Ersticken heiß – unpassenderweise suggerierte die vorbeifliegende Landschaft Kühle. Mein Kopf war wie gelähmt, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich sagte deshalb: »Die Klimaanlage ist aber schwach«, und stellte sie höher. Kühle Luft streifte unsere Knie.
    »Boston hat Spaß gemacht. Schön und melancholisch, von allem etwas. Zu viel, um sich zurückziehen zu können. Aber an dem Problem zwischen uns beiden hat sich nichts geändert. Ist ja auch nicht verwunderlich. Später ging uns das Geld aus, und wir überlegten, wie es weitergehen soll. Er meinte, wir sollten uns trennen, er würde nach Japan zurückgehen. Okay, dann bleib ich hier … hab ich gesagt, aber dann bin ich doch mitgekommen«, sagte Sui.
    »Habt ihr von Anfang an gewußt, daß ihr Bruder und Schwester seid?« fragte ich.
    »Ich habs vielleicht gewußt«, sagte sie.
    »Vielleicht?«
    »Ich hab mir immer wieder eingeredet, es nicht zu wissen, weil ich mich in ihn verliebt hatte. Bis ich allmählich selbst nicht mehr entscheiden konnte, welche Version stimmte. Klingt unglaubwürdig, ist aber wahr. Verstehst du, morgens wachte ich auf und dachte, Mensch, wir sind Geschwister … nein, ist doch alles gar nicht wahr – oder doch? Ich wußte es einfach nicht mehr.«
    »Ja, ich kanns mir ungefähr vorstellen.« Die vorbeirauschenden Autos kamen mir vor wie die Strömung eines Flusses, der mich in eine andere, irreale Welt trägt.
    »Ich wußte, daß Shōji mit dir zusammen war. Otohiko hatte mir von dir erzählt, als er dich mal mit ihm auf einer Party gesehen hatte. Damals schon hab ich mir unbedingt gewünscht, dich kennenzulernen. Seit ich wieder in Japan bin, habe ich ständig Depressionen, aber sobald ich daran denke, daß du auch hier bist, geht es mir jedesmal besser.«
    »Ja?«
    »Wir sind da«, sagte Sui und parkte das Auto. Wir befanden uns vor dem Eingangstor zu einem großen Park, den ich nicht kannte und der aus diesem Blickwinkel wie ein dichter, dunkler Wald aussah.
    »Steig aus, wir gehen spazieren«, sagte sie.
     
    Der Park war doch ziemlich weitläufig, hinter dem dicht mit Bäumen bepflanzten Teil um den Eingang betrat man nämlich urplötzlich eine helle Lichtung mit Teich. Ein Eismann verkaufte altmodisches Eis am Stiel. Er holte uns zwei aus der Kühlbox an seinem Fahrrad, reichte sie uns und fragte, ob wir Schwestern seien, was wir lachend bejahten. Wir setzten uns auf einen als Bank zurechtgemachten alten Holzstamm und schleckten unser Eis.
    Tatsächlich, ein »See«. Die Bäume am weit entfernten anderen Ufer vermittelten den Eindruck von Wäldern und Tälern. Das Wasser war spiegelklar. Auf dem Weg vor uns fuhren Kinder mit ihren Fahrrädern, der Kies knirschte.

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