N. P.
einzuziehen, ich wollte nur nicht nach Hause müssen, sondern einfach für immer hierbleiben. – Schnurstracks stiegen wir die Treppe hinauf. In dem Augenblick, als ich mit der vertrauten dunklen Tür auf gleicher Höhe war, befiel mich plötzlich die grelle Erinnerung an das, was dahinter gelegen hatte. Wie aus der Perspektive eines Vogels im Tiefflug schossen die Szenen in meinen Kopf, ohne daß ich es verhindern konnte.
Der Geschirrschrank links vom Eingang.
Der grüne Kühlschrank.
Die mit Zetteln vollgeklebte Wand.
Das Bett neben dem Fenster.
Die Flasche voller Kleingeld.
Der große Sittich, den er ohne Wissen der Hausverwaltung hielt.
Ich wurde das sichere Gefühl nicht los, daß alles hinter der Tür noch genauso aussah wie früher. Ich fühlte mich wie der Geist eines Toten, der zum Bon -Fest {8} kurz nach Hause zurückkehrt, um sich dort umzusehen. Weit weg schien alles, wie die Erinnerung an den Garten des Hauses meiner Großeltern väterlicherseits, die wir immer nur in den großen Ferien besuchten (Leute, die ich nie wiedersehen werde, ein Haus, das ich nie mehr betreten werde).
»Ich fühle mich beschwipst, obwohl ich gar nichts getrunken habe. Hört sich meine Stimme nicht komisch an?«
In der stillen Finsternis klang sie hohl.
»Du bist besoffen von deinen Erinnerungen«, diagnostizierte Sui schlicht.
Wir stiegen die Stufen immer weiter hinauf, bis wir auf dem letzten Treppenabsatz unterm Dach ankamen. Ich war nur ein einziges Mal dort gewesen – um einen Drachen steigen zu lassen. Damals war die Tür zum Dach immer verschlossen gewesen. Um seinen selbstgemachten Drachen auszuprobieren, hatte Shōji sich den Schlüssel extra nachmachen lassen.
»Abgeschlossen?!« Wie ein Gorilla im Käfig rüttelte Sui an dem verrosteten Türgriff, zu allem entschlossen.
»Rohe Gewalt! Du machst tierischen Krach, weißt du das?« sagte ich.
»Ist doch egal«, meinte Sui und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür. Weil es dunkel war, konnte ich nicht sehen, was sie für ein Gesicht machte. Aber alle Anzeichen deuteten auf wilde Entschlossenheit. Ich bekam Angst.
»Geschafft!« sagte sie plötzlich, und unter Ächzen gab die Tür nach. Ein Gefühl, als hätten wir aus diesem abgestandenen, nach Spiritus riechenden Mief einen Sprung hinaus in die frische Nachtluft getan.
»Als ob wir ewig nicht mehr raus gekommen wären«, sagte Sui. Wir standen auf dem kleinen Flachdach mit leerem Wassertank – um uns die stille, klare Nacht. Stille, wie Licht auf spiegelglatter Seeoberfläche.
Wir setzten uns auf den Boden, und Sui holte den Wein heraus. »Lauwarm«, sagte sie, als sie mir eingoß. »Und außerdem im Pappbecher.«
»Ja, und wenn man bedenkt, daß der langsam aufweicht, wirds erst richtig appetitlich«, sagte ich. Es war Rotwein, und er schmeckte gar nicht so schlecht.
»Willst du auch was?« fragte Sui und holte Käse aus ihrer Tüte. Ich nahm mir ein Stück und aß.
»So eine Open-air-Party ist auch nicht verkehrt.«
»Sag ich doch. Draußen trinken kann man außerdem nur zur Kirschblütenzeit und im Hochsommer«, sagte sie – genau wie Otohiko.
»Wo du das sagst, vor kurzem hab ich mit Otohiko nachts auf der Straße Tee getrunken, das war dasselbe Feeling wie jetzt. Die freie Natur scheint euer Element zu sein!«
»Ja, wenn man sich drinnen streitet, meint man, langsam aber sicher zu ersticken! Deshalb müssen wir sofort raus. Dann versöhnen wir uns wieder.«
»Aha, die kleinen Weisheiten des Lebens«, sagte ich. Schwach drang der Straßenlärm herauf, der Wind kühlte den Schweiß und ließ meinen Rock flattern.
»Das gibt bestimmt ein tolles Gefühl, irgendwie, so komisch, wenn wir erst hier trinken und dann nachher noch ein bißchen in die Kneipe gehen, meinst du nicht?«
»Ja, genau, wenn der Kopf den Ortswechsel nicht so schnell mitkriegt.«
»Ja, laß uns nachher noch in die Kneipe gehen.«
»Okay.«
»Ich hatte überhaupt nie richtige Freunde. Es waren zwar immer Leute da, aber nie jemand, mit dem ich so reden konnte wie jetzt mit dir. Außer Otohiko vielleicht.«
»Wirklich?« sagte ich. »Womöglich gebt ihr beide sogar ein perfektes Paar ab. Ihr beklagt euch zwar und habt eure Zweifel, aber ihr bleibt zusammen.«
Paare ohne Klagen und Zweifel sind ja wohl eindeutig in der Minderzahl.
»Tja, ich weiß nicht recht. Wahrscheinlich hätten wir uns längst getrennt, wenn unsere Beziehung eine normale wäre«, sagte Sui.
»Und wie war das mit deinem Vater?«
»Ich war
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