N. P.
wird man ungleich stärker in seinen Bann gezogen, als es das einfache Lesen seiner Werke je bewirken könnte.«
»Auch, wenn es sich bei dem Übersetzer um einen alten Hasen wie dich handelt?«
»Ja, aber ich hab das auch erst in letzter Zeit so richtig begriffen. Als ich anfing – das war gerade zur Zeit der Scheidung – war ich gar nicht gut. Die Arbeit half mir überhaupt nicht … Ich konnte nachts nicht schlafen, wenn ich anfing, darüber nachzudenken, ob ich es alleine schaffen würde, die Kinder großziehen und alles … Und sich dann tagein, tagaus von morgens bis abends mit fremden Texten auseinanderzusetzen ist … ja genau, Einsamkeit nennt man das wohl, oder? Ich hatte das Gefühl, zugrunde zu gehen, ganz intensiv. Dabei eignet sich eigentlich alles zur Ablenkung, wenn man dadurch nur für kurze Zeit seine Gedanken vollkommen abschalten kann.«
»Zum Beispiel durch die Beschäftigung mit uns?«
»Kinder erziehen ist ein ewiges trial and error «,lachte Mutter. »Nein, nein, abschalten, das war für mich Kendama {7} spielen.«
»Was?« fragte ich zurück.
»Ja, Kendama spielen. Haha, wenn ich jetzt dran denke, muß ich lachen, aber damals hab ich das völlig ernst genommen. Ich hab doch ständig gespielt, weißt du nicht mehr?«
Jetzt, wo sie das sagte, erinnerte ich mich: dieses unheimliche Geräusch – klong, klong, klong – hinter der verschlossenen Tür zu Mutters Zimmer, das ich oft hörte, wenn ich nachts aufs Klo mußte.
»Ich dachte immer, du schlügst Nägel in Strohpuppen«, lachte ich.
»Als Kind hab ich sogar einmal einen Kendama- Wettbewerb an unserer Schule gewonnen. Auch jetzt mach ichs manchmal noch, um schlechte Laune zu vertreiben oder so, aber damals war ich richtig süchtig danach. Weshalb war ich eigentlich nur so besessen davon? Jetzt kommt mir das komisch vor. Aber … jedenfalls war das immer noch besser als Computerspiele oder Fernsehen, und auch besser als Lesen oder Saufen, glaube ich.«
»Wieso, wo liegt der Unterschied? Es kommt doch bloß drauf an, daß man abgelenkt wird.«
»Irgendwie … Kopfstand, Nägelknipsen oder Sauna, Schwimmen und so was kommt mir in Ordnung vor … vielleicht, weil man sich dabei wenigstens minimal körperlich betätigt? Ja, das scheint der Punkt zu sein. Wahrscheinlich gilt das aber nur für mich, das ist klar. Schau, ich sehne mich nach einer Welt, die weder die ist, die ich gerade übersetze, noch die reale. Eine Welt ohne Geschichten, ohne Fiktion.«
Ohne Fiktion – das hatte ich doch vor kurzem schon mal gehört. Von Sui.
»Das klingt für mich nach absoluter Gelassenheit … so nach Beten und Meditieren.«
»Ja, vielleicht hast du recht. Ich hab aber noch nicht tiefer drüber nachgedacht.«
»Wer Geschichten zu sehr liebt, eignet sich vielleicht nicht zum Übersetzen. Das galt für Shōji, und für mich gilt es auch …«, sagte ich. »Mir fehlt einfach das Selbstvertrauen, mich in absoluter Gelassenheit dem Kendama- Spiel oder dem Nägelknipsen hinzugeben!«
»Ja, weil du alles und jedes in dich einläßt, alles, was die Atmosphäre um dich herum hergibt. Weißt du noch, damals, als du deine Stimme verloren hattest? Obwohl dir Theatralik verhaßt ist, bist du sehr empfänglich für Atmosphäre. Vielleicht hat dich gerade das stark gemacht – trotzdem, ich möchte dich nie mehr so weinen sehen wie damals, als Shōji gestorben ist. Du bist schon ein verrücktes Kind, du! Scheinst auf deinen Vater zu kommen.«
»Er hat mich angerufen.«
»Wie gehts ihm?«
»Ziemlich dreckig.«
»Oh.«
»Er hat sich nicht verändert. Du auch nicht. Du bist jung.«
»Ja?« sagte sie und lachte. Äußerlich wurde sie zwar allmählich älter, aber sobald sie erzählte, nahm die Quintessenz ihres Charakters, das, was ihr wohl seit ihrer Jugend zu eigen war, Gestalt an, und man meinte, einem jungen Mädchen zuzuhören.
»Und du? Macht dir noch jeder Tag Spaß?«
»Und wie, total.« Und das meinte ich ernst. Ich spürte bis in die Knochen, wie die Zeit langsam weiterlief, und ich genoß es.
Ein wenig hatte ich Mutters Leben und das, was sich an Gefühlen im Laufe der Zeit damit verbunden hatte, verstanden. Das bedeutete vermutlich, daß ich kein Kind mehr war. Trotzdem, ich fühlte mich total verlassen. Als wäre ich ganz allein auf der Welt.
I ch hatte Sui gern, aber ich traf mich nur mit ihr, wenn sie mich darum bat. Ich rief auch nie bei ihr an. Sie gehörte zu denen, die, wenn man nicht selbst den Rhythmus bestimmte,
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