N. P.
mit herausgebrochenen Betonstückchen gespielt, aber nun waren ihre Augen schon lange geschlossen. Mir wurde mulmig, und ich rückte ein bißchen näher: Sie war eingeschlafen!
»Steh auf!« sagte ich und rüttelte sie. Sui rieb sich die Augen und versuchte krampfhaft aufzustehen. Als sie es endlich geschafft hatte, sagte sie: »Ich hab von Gräbern geträumt. Unter unseren Hintern ist ja auch niemand, kein menschliches Leben- scheint uns nicht gerade gutzutun.«
»Ja, wir sitzen auf einem riesengroßen Grab«, sagte ich.
»Komm, laß uns gehen!«
Sui nickte. Also mischten wir uns wieder unter das Gedränge auf der Straße, wo es immer noch zuging wie auf einem Jahrmarkt, und gingen noch einen trinken.
Wenn ich jetzt an diese Nacht zurückdenke, lag eigentlich gar kein böser Schatten über jenem Dach. Es war vielmehr eine Nacht voller schöner Dinge, Kinderträume vielleicht.
A n einem Nachmittag, es war schon Ende August, ging ich mit Saki durch die Straßen. Wir waren im Kino gewesen und überlegten uns gerade, ob wir vor dem Nachhausegehen noch irgendwo einen Kaffee trinken wollten. Der Platz vor dem Bahnhof erschien mir irgendwie still, obwohl doch so viele Leute vorübergingen. Wir hatten die Anfahrtsstraße überquert und waren gerade am Springbrunnen angelangt. Die Fontänen glitzerten in allen Regenbogenfarben, wie gemalt. Da entdeckte ich durch das tanzende Wasser hindurch ihr unverwechselbares, hilfloses Gesicht.
Sui ist immer von einer einzigartigen Aura umgeben. Man erkennt sie sofort, selbst in großen Menschenmengen. Diese unsicheren, leichten Schritte, mit denen sie sich fortbewegt.
Unwillkürlich rief ich: »Sui!«
Ich merkte, daß Saki neben mir zusammenzuckte. Sui sagte »Oh« und sah herüber. Als sie Saki entdeckte, grinste sie verlegen und kam auf uns zu.
»Lange nicht gesehn. Vielen Dank für die Kopie«, sagte Saki, aber wie zu jemandem, den sie neulich noch getroffen hatte. Da plötzlich umarmte Sui sie. Sie schloß sie richtig fest in die Arme und sagte: »Wirklich, eine Ewigkeit!« Die Tränen standen ihr in den Augen. Sui scheint Saki ehrlich vermißt zu haben, dachte ich.
»Ist ja gut, jetzt laß mich aber los!« lachte Saki. Ein Lachen, so herzlich, daß es schon übertrieben freundlich wirkte und nach bloßer Höflichkeitsbekundung aussah.
Sui löste sich von Saki, und sofort hatte sie wieder ihr normales Gesicht. »Du bist aber groß geworden!« sagte sie. »Otohiko sehe ich ja dauernd, aber von dir hab ich immer noch das Bild des kleinen Mädchens im Kopf. Ach, waren das Zeiten! Ich bin selbst erstaunt, wie sehr mich das rührt!«
Da standen wir nun zu dritt. Der Bahnhofsplatz, auf dem die Autos vor- und wieder abfuhren, die Schlangen vor den Bushaltestellen, ein ganz normaler, sonniger Nachmittag – doch dieser Schauplatz enthielt so viel: Dinge, die kompliziert waren und Zeit gebraucht hatten. Japan, das Ausland – verquickte Distanz. Doch die Menschen, die an uns vorbeigingen, uns anrempelten und deren Stimmen unser Gespräch störten – sie merkten von all dem absolut gar nichts. Ein seltsames Gefühl. Warum bloß hatte Sui so plötzlich weinen müssen? Was wäre, wenn sich die beiden von nun an akzeptierten? Zugegeben, ich kannte sie erst ganz kurze Zeit, aber bis jetzt, bis wir hier zufällig alle drei aufeinandergetroffen waren, hatte ich in der Illusion gelebt, jede von ihnen schon seit Kindertagen zu kennen. Jetzt hatte ich außerdem das Gefühl, ein bißchen aufatmen zu können. Mensch, ihr zwei, denkt doch nicht so furchtbar kompliziert, freut euch lieber! Blutsverwandte scheinen jedoch immer Umwege gehen zu müssen. Jedenfalls, all das trug dazu bei, daß die atmosphärische Dichte auf diesem nachmittäglichen Schauplatz anders war als gewöhnlich.
»Du siehst Vater viel ähnlicher als früher«, sagte Sui.
Saki wurde verlegen. »Ja? Wo denn?«
»Um die Augen. Die Kontur der Nase. Wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Das sagt Mutter auch immer.«
»Ihr zwei seht euch tatsächlich ähnlich«, sagte ich. »Wie Schwestern, nicht wie Cousinen oder so. Das sieht man.«
»Wirklich?« sagte Sui und studierte Sakis Gesicht ganz genau. Man konnte meinen, bald hatte sie ein Loch in sie gestarrt, so lange blieb ihr Blick auf Saki haften. Dann, einen Moment nur, legte sie das zaghafteste Lächeln auf, traurig, wie ein langer Seufzer. Und da machte es ganz leise klick bei mir: Ich wußte, irgendwo hatte ich dieses Lächeln schon einmal gesehen.
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