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N. P.

N. P.

Titel: N. P. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Banana Yoshimoto
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ohne jeden Skrupel im Leben anderer ein- und ausgingen, und dann, ja dann würde man irgendwann die Tage fürchten, an denen Sui nicht bei einem war. So war sie, das spürte ich. Es gibt ein, zwei Hochsommerwochen, die sind seltsam. Man hat den Eindruck, alles stünde still, der Sommer ginge nie vorüber, doch unter der strahlenden Sonne tut sich viel. In den Herzen der Menschen und in der Entwicklung der Dinge. Unterdessen wetzt der Herbst die Messer. Und eines Morgens plötzlich reißen einen dann kalter Wind und ein endlos klarer Himmel aus der Illusion, die Zeit habe stillgestanden.
    Jedenfalls, irgend etwas ging vor, aber ich konnte nicht erkennen, was und wo. Sui rief mich ständig an. Immer, wenn ihre Stimme an diesen heißen Tagen in mein Ohr drang, bekam ich das Gefühl, das Herz würde mir von dort aus anfaulen. Es ist Endzeit, schien mir der Nachhall ihrer Stimme jedesmal zu sagen.
    Oft tauchte dann vor mir Otohikos mondbeschienenes Gesicht von jenem Abend auf der Straße auf.
     
    Es war schon spät in der Nacht, als Sui mich anrief.
    Ich hörte sofort, daß sie ziemlich betrunken war.
    »Otohiko ist einfach vor mir eingeschlafen. Ist das nicht gemein!« sagte sie.
    Sie kokettiert wieder mit ihrer Beziehungskiste, dachte ich mir und ging nicht darauf ein, sondern sagte nur: »Er wird halt müde gewesen sein.«
    »Ich bin anscheinend hauptsächlich von Menschen umgeben, die wunderbar einschlafen können, schon als Kind war das so. Oft hab ich die ganze Nacht dagesessen und beobachtet, wie Mutter schläft, total besoffen. Heute kann ich mich ja kaum erinnern, ihr Gesicht je mit offenen Augen gesehen zu haben! Vater, nein, mein Liebhaber, oder besser Herr Takase … mit ihm wars jedenfalls genauso. Erst hat er einen vollgelabert, im Dunkeln, von wegen chronische Unzufriedenheit, Reue, Ehrgeiz oder was weiß ich nicht alles. Dann, nachdem er das Problem aufgebracht hatte, ist er einfach eingepennt! Und ich krieg kein Auge zu, weil ich die ganze Zeit darüber nachdenken muß – über die ›Kunst‹ oder die ›Freiheit‹ oder ›asoziales Verhalten‹. Im Endeffekt war ich diejenige, die länger darüber nachgedacht hat als er. Aber nicht einschlafen zu können hat auch was für sich. Die Nacht ist interessant. Für Leute, die sofort schlafen, ist sie im Nu vorbei, aber dem, der sie durchwacht, kann sie wie ein ganzes Menschenleben vorkommen. Bisweilen hat man sogar das Gefühl, Zeit gewonnen zu haben.«
    »Trink doch was, um einschlafen zu können«, schlug ich vor, weil sie sich wirklich zu quälen schien.
    »Ich trink doch schon die ganze Zeit!« Das klang weder weinerlich noch wütend. Eher nach der von einem leeren Lächeln begleiteten Aussage einer Frau, die nicht mehr weiter weiß mit ihrer Liebe. Ich kannte das von mir selbst. Man sieht es außerdem an den Augen. Die Männer aber merken es auch dann noch nicht, obwohl es ein weit verbreitetes Phänomen ist. Oder vielleicht merken sie es doch – sie lassen jedenfalls die Frau einfach mit der Nacht allein und verabsentieren sich in den Schlaf.
    In dieser Situation befand sich Sui vermutlich gerade.
    »Ist Otohiko etwa jetzt da, im gleichen Zimmer? Und du redest so laut?« fragte ich.
    »Nee, ich ruf nicht von meiner Wohnung aus an«, antwortete sie. Schock!
    »Du bist nicht zu Hause?«
    »Nee, ich bin in der Telefonzelle gleich bei dir um die Ecke.«
    Hatte ich mir fast gedacht! Aber ich hatte gerade nichts anderes vor, und da konnte ich ja hingehen. »Du bildest dir wohl ein, ich hätte nie was zu tun?!«
    Sie lachte: »Früher, da waren die zwischenmenschlichen Beziehungen einfacher als jetzt. Man hatte immer Zeit füreinander.«
    »Die Telefonzelle da an der Ecke, oder? Warte, ich komm, und wir gehen einen trinken«, sagte ich und legte auf. Ich zog mir schnell was über und verließ das Haus.
    Am Ende ist Sui doch nur ein ganz normaler, gesunder Mensch ohne jede Macke, schoß es mir plötzlich durch den Kopf, während ich die nächtliche Straße entlangging. Wenn man’s recht bedachte, war sie gar nicht neurotisch, sondern benahm sich nur konsequent.
    Aber was machte dann ihren Reiz aus?
    … überlegte ich. Dieses Unpassende, dieses autarke Etwas, diese irgendwie selbständige Begabung. Diese Qual, die nur innerhalb ihrer Person existierte und die sie mit keinem anderen Menschen teilen konnte. Dieses machtvolle Zauberwort, das nur für wenige Leute Wirkung besaß.
     
    Sui lehnte an der Telefonzelle und trug eine Sonnenbrille. Sie sah aus wie

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