N. P.
Drastischeres – aber wir werden weitersehen, wenn es soweit ist. Man darf das zwar nicht laut sagen, aber umbringen kann ich es ja dann immer noch. Jedenfalls nicht schon jetzt.
Seit ich dich kenne, muß ich ständig an dich denken.
Mein Schutzengel, du.
Ach, wird das schwer werden. Knall und Fall bist du in die enge Welt meines seltsamen Traumes eingedrungen, den ich so verzweifelt weiterträumen wollte. So unwahrscheinlich schnell, wie das Eis geschmolzen ist, das du mir ausgegeben hast, damals im Park, als wir uns das erste Mal getroffen haben, am hellichten Tag.
– Wie damals als Kind, wenn man bei Freunden zu Besuch war und dort was Schlimmes angestellt hatte, wie dann blitzartig die Gesichter der Eltern vor einem auftauchten,
– oder während einer Verabredung mit jemandem, den man gar nicht mag, wenn man dann ganz plötzlich an jemanden denken muß, den man wirklich gern hat, und man ganz traurig wird.
Mit dir zusammen war es immer schön. Du wirst bestimmt ewig so weitermachen. Ein interessantes Leben! Wenn man dich so beobachtet – deine Doofheit, deine Fröhlichkeit, deine Tolpatschigkeit, deine Güte, deine Traurigkeit, deine Gesten – dann gefällt man sich, je genauer man hinsieht, plötzlich selbst auch irgendwie ein bißchen besser. Auch die anderen Menschen hat man gleich viel lieber. Zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich dabei das Gefühl, daß die Welt, so wie sie ist, in mich hineinstürzte. Ich war entsetzt.
Du hast mir das Gefühl gegeben, daß es vielleicht doch einen Ausweg gibt – nicht allein durch deine Erscheinung, dein Auftreten oder durch deine Antworten auf meine Fragen, nein, es war deine Farbe, die sich allmählich in allem zu spiegeln begann, auf das mein Blick fiel: in der Sonne, den Straßen, den Autos, den wilden Blumen am Wegesrand, den Fenstern der Häuser. Und alle Leute auf der Straße hatten tatsächlich zwei Augen, eine Nase und einen Mund!
Ich glaube fast, man kann dich am besten mit einem Briefkasten vergleichen: Briefkästen gibt es überall, aber wenn man einen braucht, findet man keinen. Und plötzlich, an irgendeiner verlassenen Straßenecke, stößt man dann drauf. Egal, ob die Sonne scheint, ob es regnet, am hellichten Tag oder mitten in der Nacht, überall auf der Welt gibt es Briefkästen, genauso wie sich der Mond am Abendhimmel in jedem Wasser spiegelt.
Auch hier, wo ich jetzt wohne.
An jenem regnerischen Abend fiel es mir so schwer, Abschied zu nehmen – ich fühlte mich wie ein Fohlen, das zum Markt gebracht wird, und damit mich nicht die sentimentalen Erinnerungen an diesen Sommer mit dir und Otohiko von hinten an den Haaren packen und zurückreißen, ich womöglich umkehre, hab ich im Auto meine Gedanken voll auf ›Briefkasten‹ konzentriert, so stark – der Briefkasten hätte beinahe leibhaftig neben mir gesessen!
Es gibt nur einen Weg von meinem jetzigen Aufenthaltsort zu dir und weiter zu Otohiko (Nein, nicht das Telefon. Ich könnte mich bestimmt nicht richtig mitteilen, und sobald ich aufgelegt hätte, würde ich wahrscheinlich unerträglich traurig werden.) Symbol für diesen Weg ist ein Briefkasten. Apropos Briefkasten: ein Brief. Dieser Brief.
Ich geh ihn einwerfen.
Ich werde Otohikos Kind großziehen. Ich glaube, mit aller Kraft. Wenn alles gutgeht, werde ich es bald in den Kindergarten bringen und später dann seine Volljährigkeit feiern. Hoffentlich wird es ein Mädchen. Saki wird weiter forschen. Otohiko wird endlich zur Normalität zurückkehren.
Und ich, ich werde für immer und ewig an dich denken, wenn ich einen Briefkasten sehe. Alles geht weiter.
Ich glaube nicht, daß wir uns je wiedersehen werden. Laß es dir gutgehen. Aber vielleicht doch irgendwann. Bis dann,
Sui
E s war September geworden.
Ich hatte überraschend einen Übersetzungsauftrag bekommen, die ganze Nacht durchgearbeitet und war gegen Morgen ins Bett gefallen. Als ich aufwachte, war es bereits Nachmittag, und ich bekam plötzlich wahnsinnige Lust auf Cola. Ich machte mich also auf zu dem Getränkeautomaten gleich nebenan, trank die Cola, schloß einen kleinen Spaziergang an, kehrte zurück, warf nach langer Zeit mal wieder einen Blick in den Briefkasten – und da lag dieser Brief drin. Ich ging in meine Wohnung, machte mir ein Bier auf, legte mich aufs Bett und las.
Ein guter Brief.
Als ich zu Ende gelesen hatte, blieb ich noch eine Weile mit geschlossenen Augen liegen, den Brief in der Hand. Rot lag mir der Sonnenschein, der
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