N. P.
tatsächlich drangen mir vom anderen Ende der Leitung die typischen Hintergrundgeräusche ins Ohr: Aufgeregte mittägliche Flughafenatmosphäre, die einem das Herz höher schlagen ließ.
»Wohin fliegst du denn?«
»Eine Freundin in New York besuchen. Außerdem will ich Literatur für meinen nächsten Aufsatz zusammensuchen, so viel wie möglich.«
»Aber wieso so plötzlich?« fragte ich.
»Ach, seitdem sie weg ist, hängt Otohiko die ganze Zeit mit Weltuntergangsstimmung bei mir rum – das hält man ja nicht aus! Deshalb eben.«
»Rabenschwester!«
»Dann kümmer du dich doch um ihn!« Saki lachte.
»Also, für uns ist ein Abschnitt zu Ende gegangen. Nicht, weil Sui verschwunden ist, das ist es nicht allein, etwas ist ein für allemal zu Ende gegangen. Wir mußten etwas beschützen, und das brauchen wir jetzt nicht mehr. Anstatt sich deshalb einsam und verlassen zu fühlen, denk ich, sollte man sich lieber freuen, daß man eine Last weniger hat, und sich dazu beglückwünschen, für eine Weile eine ganz normale junge Japanerin sein zu dürfen. Die Spaß haben darf! Reisen, schöne Landschaften sehen, alte Freunde besuchen. Ach, ich kann das nicht so gut beschreiben, aber so fühl ich mich halt … Und außerdem, mein sechster Sinn sagt mir, daß Sui noch lebt. Sie bringt sich nicht um, glaube ich, jedenfalls nicht ohne Otohiko.«
»Hoffentlich.«
»Ich bin davon überzeugt. Ich glaube nicht, daß sie tot ist …. aber vielen Dank für alles. Du hast uns gerettet.«
»Jetzt hör schon auf. Du kommst doch bald zurück, oder?« Das hatte ja fast geklungen wie ein Abschied auf immer!
»Ja, vor Ende der Semesterferien bestimmt! Dann können wir wieder ›Arbeitstreffen‹ veranstalten«, sagte Saki. Viel wußte ich nicht über sie – meine Freundin für einen Sommer, kühl, entschlossen, freundlich. Aber gemocht hatte ich sie von Anfang an.
»Ja, machs gut, bis zum Herbst.«
»Also, bis dann.«
»Paß auf dich auf.«
Sie hatte aufgelegt, und in meinem Kopf wurde die Flughafenszenerie ausgeblendet.
Vielleicht kommt sie nicht mehr zurück, dachte ich. Nein, das ist übertrieben. Im Herbst werde ich sie wiedersehen.
Mit ihr ist das anders, ganz anders.
… dachte ich, und wieder wurde mir schwer ums Herz.
L iebe Kazami, wie geht es dir?
Mir gehts gut, ich bin immer noch schwanger, im vierten Monat bald.
Keine Angst, alles ist in Ordnung, es gibt einen (zukünftigen) Vater. Das heißt, einen Menschen, der die unglaubliche Herzensgüte besitzt, mich zu heiraten.
Aber der Reihe nach: Es gab für mich nur die folgenden Alternativen:
1. Das Kind abtreiben und mit Otohiko zusammenbleiben.
2. Das Kind abtreiben und mich von Otohiko trennen.
3. Das Kind abtreiben und den oben erwähnten Mann heiraten.
4. Das Kind behalten und den oben erwähnten Mann heiraten.
5. Selbstmord.
6. Doppelselbstmord.
Das Kind zur Welt zu bringen und mit Otohiko zusammenzubleiben war unmöglich. Das wußte ich nur zu gut, und es tat weh. Ich war schon drauf und dran, durchzudrehen, weil es so weh tat. Einfach so zu verschwinden – das paßt am besten zu mir, glaube ich, und wenn ich in meinen fiktiven Charakterzügen konsequenter wäre, hätte ich das vielleicht auch geschafft, aber seit meine Periode ausgeblieben ist, seit ich nach Japan zurückgekommen bin und allein lebe, bringe ich einfach nicht mehr genügend Spontaneität auf. Dazu fehlt mir das nötige Kleingeld und die Energie.
Ich frage mich, ob ich nicht die ganze Zeit, seit meiner Geburt bis jetzt, an eine Geschichte geglaubt habe, die mit meinem Tod endete. Das war ihre Prämisse, glaube ich. Meine Mutter ist einfach so verschwunden. Ich hab die ganze Zeit geglaubt, zu sterben sei immer noch besser als einfach zu verschwinden, weil man dann ohne Hoffnung auskommt.
Ich wollte sterben. Immer schon. Das stimmt jetzt wirklich, ganz, ganz ehrlich.
Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber Ehe, Liebe und Tod hatten für mich die gleiche Bedeutung, waren sich so ähnlich, daß ich nicht mehr zwischen ihnen wählen konnte. Aber gerade als die Entwicklung der Dinge diesen Punkt erreicht hatte, habe ich dich kennengelernt.
Mein früher Tod ist beschlossene Sache – davon war ich fest überzeugt. Von klein auf, ernsthaft. Das war der Fluch, der auf mir lag, dieser Irrglaube. Was es bei anderen Leuten ist, weiß ich nicht. Aber alle haben so was, mit Sicherheit, mehr oder weniger. Etwas, das für diesen bestimmten Menschen Unglück bedeutet. Das war
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