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N. P.

N. P.

Titel: N. P. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Banana Yoshimoto
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Hälfte übersetzt war. Das war doch nicht möglich! Vor kurzem erst hatte er verkündet, er sei fertig. Doch am Tag zuvor hatte er gesagt, daß, je mehr er daran feile, das Gefühl immer stärker würde, irgend etwas stimme nicht. Er mußte also wieder ganz von vorne angefangen haben. Von den beiden Selbstmorden wußte ich.
    Mir schauderte.
    Ich schrieb ihm einen Zettel: »Mach die Übersetzung schnell fertig, damit wir ans Meer fahren können. Wie beim letzten Mal mit dem ersten Zug morgens. Wir ziehen unsere Badesachen an, legen uns an den Strand und reden, reden den ganzen Tag. Ich freu mich schon drauf! Hab mir deine Armbanduhr ausgeliehen. Kriegst sie bald wieder.«
    Hoffentlich steigt ihm beim Durchlesen sofort der Geruch des Meeres in die Nase und er hört das Wellenschlagen, dachte ich. Er sollte sich an unseren Ausflug erinnern. Er sollte den sehnlichen Wunsch bekommen, diese Arbeit zu Ende zu bringen, um schnell ans Meer fahren zu können. Nicht, weil ich eifersüchtig gewesen wäre, sondern weil ich Angst hatte. Ich hatte das Gefühl, mit dem Zettel gegen einen unsichtbaren, dunklen Feind anzukämpfen.
    Er sollte sich an all das erinnern, was wir während unserer Liebe zusammen erlebt hatten: die wohligwarmen Abende, die Schönheit der in Orange getauchten Straßen, die wir schlaftrunken vom Taxi aus bewunderten, wenn er mich im Morgenrot nach Hause brachte, die Tränen, die heißen Handflächen, die Intensität von all dem. Ich wünschte es mir so verzweifelt wie eine Frau, die am Ende einer Liebe steht und spürt, daß sie bald verlassen wird.
    Beunruhigt rief ich ihn in der Mittagspause von der Telefonzelle auf dem Schulhof aus an.
    »Ja, hallo?« meldete sich Shōji mit normaler Stimme. Das beruhigte mich. Ich sagte: »Ich ruf von der Schule aus an.« Im Hintergrund tobte der fast schon hysterische Mittagspausenlärm einer Oberschule. Zu allem Überfluß machte man gerade das Schwimmbecken sauber, und der Hausmeister brüllte mit dem ablaufenden Wasser um die Wette. Lachend sagte ich: »Nervend laut, was?«
    »Unerträglich!« sagte Shōji. »Hast du dir was zu Mittag mitgenommen?«
    »Da ich auswärts übernachtet habe, mußte ich mit der Schulkantine vorlieb nehmen«, lachte ich.
    »Die Jugend von heute!« Er klang fast neidisch. »Danke für den Brief.«
    »Übermorgen oder so komm ich wieder vorbei.«
    »Ja, gut.«
    Der Lärm erfüllte die Schule, begrub sie förmlich unter sich. Die Schüler schienen sich auf Teufel komm raus zu vergnügen, so als müßten sie die Freiheit eines ganzen Tages in diese dreißig Minuten pressen. Lachen platzte heraus, Energie explodierte. Ich sah auf, und da war der weite, blaue Sommerhimmel. Ein blendender Nachmittag, an dem Licht und Schatten Hand in Hand durch die Straßen schlenderten.
    »Bis dann.«
    »Ja.« Er legte auf, und das war das letzte, was ich von ihm hörte.
    Wie sehr ich ihn auch liebte, mir war es damals nicht möglich, die Distanz zwischen hier und dort, dem einen und dem anderen Ende der Telefonleitung, zwischen Shōjis Aufenthaltsort und meinem, zu überwinden. Eher wäre eine Verbindung zwischen Himmel und Hölle zustandegekommen. Nicht einmal versuchen konnte ich es, mir fehlte jedes Mittel – ich besaß weder Sender noch Antenne.
    Funkstille – daß so was sogar zwischen Liebenden vorkommen soll, hatte ich zwar damals schon gehört, konnte mir aber derart Sinnloses absolut nicht vorstellen. Es klang für mich eher wie eine traurige Sage aus einem fernen Wüstenland – weit, weit weg, vor langer Zeit in einer düsteren Welt geschehen – und für immer vorbei. Ich lebte in meinem Paradies, und so sollte es bleiben.

 
     
     
    A n einem Abend, zwei, drei Tage, nachdem ich Otohiko getroffen hatte – ich machte gerade Anstalten, nach Hause zu gehen –, hörte ich an der Tür des Seminars jemanden laut nach mir fragen: »Ist Frau Kanō da?«
    »Ja, hier bin ich«, sagte ich und wandte mich der Stimme zu. Ich erblickte eine Frau, die auf der Stelle Sonnenschein verbreitete. Und da erinnerte ich mich.
    »Ich bin Saki Takase«, sagte sie. »Als ich von meinem Bruder hörte, daß du hier arbeitest, war ich völlig baff!«
    Sie lachte. Im Unterschied zu ihrem Bruder schien sie in der Zwischenzeit Energie aufgetankt zu haben. Die frauliche Silhouette und das Gesicht mit dem mädchenhaften Lächeln. Ein unvergessener Eindruck, doch jetzt sprühte sie geradezu vor fraulicher Lebenskraft.
    Ich sagte: »›Lange nicht gesehen‹ paßt in unserem Fall

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