Nach all diesen Jahren
direkt einen Job an der Börse bekommen. Wegen seiner erfolgreichen Geschäftsabschlüsse eilte ihm schon bald der Ruf voraus, ein Finanzgenie zu sein. Eine rasante Karriere folgte. Aber er war nie ein Teamspieler, sondern arbeitete ausschließlich allein. Es dauerte nicht lange und man schrieb ihm einen Killerinstinkt zu, vor dem selbst hartgesottene Geschäftsmänner zitterten.
Das alles kümmerte ihn nicht. Geld an sich bedeutete ihm nichts. Aber es gab ihm Freiheit, und das war wichtig. Er war von niemandem abhängig. Innerhalb von drei Jahren gelang es ihm, genügend Kapital zu erwerben, um sich sein eigenes Imperium aufzubauen. Seinen kometenhaften Aufstieg konnte nichts und niemand stoppen – und schon gar keine diffusen Gewissenskonflikte.
Im Moment jedoch fühlte er sich in seiner Haut nicht wohl und fuhr sich nervös durch die Haare.
Sarah registrierte diese für ihn so typische Geste. „Du hast dir die Haare schneiden lassen“, bemerkte sie, als wäre dies eine hochphilosophische Überlegung. Raoul warf ihr ein schiefes Lächeln zu.
„Schulterlange Haare passen nicht zum Image. Jetzt natürlich könnte ich sie mir bis zur Taille wachsen lassen, und niemand würde es wagen, etwas zu sagen. Doch meine wilden Zeiten sind ein für alle Mal vorbei.“
Und dazu gehöre auch ich, dachte sie. Aus und vorbei! Nur – leider stimmte das so nicht ganz. Sie wusste, dass zwischen ihnen noch etwas zu klären war, hatte aber schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass es jemals zu diesem Gespräch kommen würde. Im Moment fühlte sie sich von der Situation schlicht überfordert.
„Du musst doch stolz auf dich sein“, murmelte sie. Wieder blickte sie verlegen zu Boden. Als er sich unvermittelt neben sie setzte, schrak sie zusammen. Und trotzdem – trotz all ihres Elends, der Peinlichkeit der Situation, reagierte ihr Körper auf Raouls Ausstrahlung. „Aber schließlich warst du auch eisern entschlossen …“
„Nur so macht man in diesem Leben Karriere. Aber du wolltest mir erzählen, was aus deinem Studium geworden ist.“
„Wollte ich?“ Sie warf ihm einen schrägen Blick zu und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. „Ich … ich … So weit ist es gar nicht gekommen. Die Dinge haben sich anders entwickelt.“
„Meinetwegen!“, konstatierte Raoul weniger als Frage denn als Feststellung. Er spürte, wie er sie immer noch begehrte. Und er hasste es, wenn Gefühle ins Spiel kamen. Abrupt stand er auf, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich Sarah gegenüber. „Du wolltest doch damals noch drei Monate bei dem Projekt weiterarbeiten? Und eigentlich sogar noch verlängern.“
„Bei manchen Menschen läuft eben nicht alles nach Plan“, bemerkte Sarah in weitaus schärferem Ton als beabsichtigt.
„Und daran gibst du mir die Schuld? Das akzeptiere ich nicht! Ich war immer ehrlich zu dir. Soweit ich mich erinnere, war deine letzte Bemerkung, dass du jetzt wenigstens die Chance hast, deinen ‚Märchenprinzen‘ zu finden. Solltest du vorhaben, mich für dein verpfuschtes Leben verantwortlich zu machen, beenden wir dieses Gespräch am besten sofort. So funktioniert das nicht. Wir haben uns damals getrennt! Wenn sich dein ‚Märchenprinz‘ als Typ entpuppt hat, der lieber auf dem Sofa sitzt und seine Frau zum Putzen schickt, ist das bedauerlich, aber nicht meine Schuld.“
„Was redest du denn da? Ich … ich gebe dir doch nicht die Schuld! Außerdem gibt es keinen ‚Märchenprinzen‘. Herr im Himmel, dieses Gespräch ist ja der reinste Albtraum. Also … ich meine … du bist so verändert!“
Raoul überging ihre Worte kommentarlos. „Du hast vielleicht nicht deinen ‚Märchenprinzen‘ gefunden, aber es muss doch einen Mann in deinem Leben geben! Warum solltest du sonst auf dein Studium verzichtet haben? Du hast doch immer gesagt, Lehrerin wäre dein Traumberuf.“
Er erinnerte sich daran, wie sich die Farbe ihrer Augen je nach Stimmung veränderte. Im Moment hatten sie das tiefe Grün von Waldmoos. Wieder musste er sich gegen die aufsteigenden Gefühle wehren. Er hatte es so gemocht, wenn sie ihn mit lachenden Augen liebevoll aufgezogen hatte. Das hatte er seitdem nicht mehr erlebt. Reichtum und Macht hatten ihn in ganz andere Kreise geführt. Jetzt flirteten die Frauen zwar nach wie vor mit ihm, aber ohne diese Unbeschwertheit … diese Leichtigkeit. In den letzten fünf Jahren hatte er auch nicht den Hauch einer Versuchung verspürt, sich näher auf eine Frau
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