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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Nun konnte ich ihn um nichts mehr bitten. Ich seufzte und hörte zu, wie er stöhnte, heulte, schrie. Wir waren jetzt gleich, Jack und ich. Bei all seiner Privilegiertheit, den schönen Locken und den selbstsicheren Schultern - er war nicht besser als ich.
    Jack winselte.
    »Du solltest dich freuen«, sagte ich zu dem hechelnden Wolf. »Du hast dich diesmal gar nicht übergeben.«
    Jack sah mich eine Weile aus starren Haselnussaugen an, dann sprang er auf und stürmte zur Tür.
    Am liebsten wäre ich gegangen, doch ich hatte keine Wahl. Jede Hoffnung, ihn und unsere Unterhaltung einfach hinter mir lassen zu können, hatte sich in dem Augenblick zerschlagen, als er Grace' Namen sagte.
    Ich rannte ihm nach. Wir polterten durch das Haus - mit seinen Krallen schlitterte er über die Holzdielen und meine Schuhe quietschten hinterher. Dicht hinter ihm stürzte ich in die Halle mit den grinsenden Tieren; der Gestank ihrer toten Haut stieg mir in die Nase. Jack war in zweierlei Hinsicht im Vorteil: Er kannte sich im Haus aus und er war ein Wolf. Ich dachte, er würde eher von dem Vorteil der ihm vertrauten Umgebung Gebrauch machen, um sich zu verstecken, anstatt sich auf seine noch wenig vertrauten tierischen Instinkte zu verlassen.
    Ich irrte mich.

  Kapitel 48 - Grace (9°C)
    S am war noch nie zu spät gekommen. Wenn ich aus dem Unterricht kam, hatte er immer schon im Bronco auf mich gewartet, sodass ich nie darüber nachdenken musste, wo er wohl war oder wie ich mir die Zeit vertreiben sollte, während ich auf ihn wartete.
    Heute jedoch wartete ich.
    Heute wartete ich, bis die anderen sich in die Schulbusse gedrängt hatten. Ich wartete, bis auch die trödeligsten Schüler sich zu ihren Autos begeben hatten und, einzeln oder zu zweit, darin verschwunden waren. Ich wartete, bis die Lehrer aus der Schule kamen und in ihre Autos stiegen. Ich dachte darüber nach, schon mal mit den Hausaufgaben anzufangen. Ich dachte darüber nach, wie sich die Sonne immer tiefer auf die Baumkronen herabsenkte, und darüber, wie kalt es im Schatten war.
    »Wirst du noch abgeholt, Grace?«, fragte Mr Rink freundlich, als er aus der Schule kam. Nach dem Unterricht hatte er das Hemd gewechselt und roch jetzt schwach nach Rasierwasser.
    Ich muss einen verlorenen Eindruck gemacht haben, wie ich, die Arme um den Rucksack auf meinem Schoß geschlungen, dort auf dem Backsteinmäuerchen an der kleinen mulchbedeckten Fläche vor der Schule saß. »Ich hoffe schon.«
    »Soll ich vielleicht irgendjemanden anrufen?«
    Aus dem Augenwinkel sah ich den Bronco auf den Parkplatz ein
    biegen und gestattete mir einen erleichterten Seufzer. Ich lächelte Mr Rink zu. »Nicht nötig, da ist er schon.«
    »Ein Glück«, entgegnete er. »Nachher soll es nämlich noch richtig kalt werden. Sie haben Schnee angesagt!«
    »Juhu«, gab ich verdrießlich zurück. Er lachte, winkte und ging zu seinem Auto. Ich warf mir den Rucksack über die Schulter und hastete zum Bronco hinüber, öffnete die Beifahrertür und sprang ins Auto.
    Erst nachdem die Tür zu war, wurde mir klar, dass der Geruch ganz und gar falsch war. Ich wandte den Blick zum Fahrersitz und verschränkte die Arme vor der Brust, zitternd vor Schreck.
    »Wo ist Sam?«
    »Ach, du meinst den Typen, der hier eigentlich sitzen sollte«, entgegnete Jack.
    Obwohl ich seine Augen im Gesicht eines Wolfs gesehen hatte, obwohl Isabel mir gesagt hatte, sie sei ihm begegnet, obwohl wir seit Wochen wussten, dass er am Leben war, war ich nicht darauf vorbereitet gewesen, Jack leibhaftig vor mir zu sehen. Seine schwarzen Locken, länger als sonst, wenn ich ihm im Flur begegnet war, seine rastlosen braunen Augen, seine Hände, mit denen er sich ans Lenkrad klammerte. Wirklich. Lebendig. Mein Herz sprengte mir beinahe die Brust.
    Jack hielt den Blick auf die Straße gerichtet, als er vom Parkplatz raste. Wahrscheinlich nahm er an, dass ich nicht versuchen würde wegzulaufen, solange der Bronco nicht stillstand, aber darüber hätte er sich keine Sorgen machen müssen. Mich hielt nur eine Frage auf meinem Sitz: Wo war Sam?
    »Ja, ich meine den Typen, der eigentlich da sitzen sollte«, entgegnete ich beinahe zähnefletschend. »Wo ist er?«
    Jack sah zu mir herüber; er war nervös und zitterte. Mit welchem
    Wort hatte Sam die neuen Wölfe noch beschrieben? Instabil? »Ich will hier nicht den Oberschurken spielen, Grace. Aber ich brauche ein paar Antworten, und zwar schnell, sonst könnte das Ganze doch noch ziemlich böse

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