Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
Angst.
Ich hab keine Angst. Erst mal sind die ja ganz klein, und ich bin mir sicher, dass ich den Kampf gewinnen kann.
Ein junges Mädchen in Sandalen und einem langen weißen Kleid kam mit einem Arm voller Rosen die Straße entlang. Sie blieb stehen und hielt sie Cohen hin, sagte etwas und deutete mit dem Kopf auf Elisa. Er hob zwei Finger, und das Mädchen nahm zwei Rosen aus dem Strauß und reichte sie ihm. Er bezahlte, und sie nickte und ging weiter. Cohen reichte die beiden Rosen Elisa.
Eine für das Wasser von Venedig, sagte er. Und eine für das Wasser des Mississippi.
Sie nahm die Blumen und roch daran. Berührte mit den Fingerspitzen die Blütenblätter.
Aus der Ferne hörte er, wie jemand nach ihm rief, aber er war sich nicht sicher, wer es war oder woher es kam, also bemühte er sich nicht um eine Antwort.
Die Sonne hatte sich weiterbewegt, und die Schatten waren verschwunden. Die Sonne von Venedig strahlte Elisa von der Seite her an, ihr Gesicht, ihren Arm, ihr Bein. Sie kam ihm vor wie aus Marmor gemacht, als wäre ihre Schönheit perfekt eingefangen und für immer bewahrt.
49
Mariposa saß in einer Busstation in Asheville, North Carolina. Die Busstation lag zwanzig Minuten entfernt von der Unterkunft, in der sie einige Monate lang gehaust hatten. Sie saß an dem gleichen Platz, an dem sie immer saß, wenn sie hier wartete. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, neben ihr auf der Holzbank stand ihre Tasche, unter der Decke drehten sich die Ventilatoren. Sie blätterte in einem Nachrichtenmagazin, ließ die Seiten dabei flattern und freute sich an dem Rascheln, das sie verursachten. Eine Frau mit Brille saß hinter dem Fahrkartenschalter und sprach ins Telefon. Zwei Männer, die wie Brüder aussahen, saßen auf der anderen Seite des Wartesaals. Einer warf immer wieder eine Münze hoch und fing sie auf, der andere musste raten, ob es Kopf oder Zahl war. Dann wechselten sie, und der eine verlor viermal hintereinander. Draußen hoben Evan und Brisco Steine auf und versuchten, einen Papierkorb zu treffen, den sie mitten auf den leeren Parkplatz gestellt hatten.
Auf ihrer Tasche lag eine Baumwolljacke, sie trug ein ärmelloses Hemd mit Rüschen am Kragen. Es war später Frühling, die Luft war schwül und windig. Tagsüber brauchte man keine Jacke, aber nachts wurde es immer noch ziemlich kühl. Sie setzte sich aufrecht hin und legte das Magazin beiseite. Auf dem Cover war das Bild eines Mannes in einem Anzug zu sehen, der auf einem sonnenbeschienenen Podium stand, hinter ihm flatterten rot-weiß-blaue Fahnen im Wind. Er ballte die rechte Faust und schien mit großer Empörung zu sprechen. Sie nahm die Zeitschrift, drehte sie um und schob sie an den Rand der Bank.
Sie warf einen Blick auf die runde Uhr an der Wand über dem Schalter. Es waren noch zehn Minuten, bis der Bus kam, wenn er pünktlich war, worauf niemand wetten würde.
Sie griff nach ihrer Jacke, zog ein gefaltetes Stück Papier heraus und zählte die Orte, an denen sie gewesen war: Huntsville, Birmingham, Roswell, Augusta, Athens. Die Namen von dreizehn weiteren Städten und die Adressen von weiteren dreizehn Unterkünften verblieben noch auf der Liste. Diesmal war sie zum ersten Mal Richtung Osten unterwegs, nach Winston-Salem. Die Unterkünfte auf der Liste boten Tausenden von Menschen Unterschlupf und reichten von Alabama bis North Carolina, von Kentucky bis Virginia. Es gab noch mehr auf der anderen Seite der überfluteten Gebiete, drüben in Texas und Arkansas, aber die konnten warten. Tatsächlich hoffte sie, dass es nicht nötig sein würde, hinüberzufahren. Die Unterkünfte waren größtenteils umfunktionierte Highschool-Sporthallen oder Gebäude der Nationalgarde, in denen die meisten Flüchtlinge nun ihr Dasein fristeten. Die Kinder, die dort lebten, wurden unterrichtet, die Erwachsenen bekamen Job-Training, die Post wurde verteilt. Sie hatte sich vorgenommen, jede dieser Unterkünfte aufzusuchen, bis sie jemanden fand, den sie kannte. Denn irgendwo hatte sie noch eine Mutter, Kusinen und Tanten, und sie hatte sich vorgenommen, sie zu finden.
Sie schaute durch die Glasfront zu Evan und Brisco. Dachte an den Ort, an dem sie Cohen beerdigt hatten, irgendwo am Rand der Straße im Nordosten von Mississippi, nachdem sie drei Stunden lang weitergefahren waren, als er schon tot war. Niemand wollte ihn gehen lassen. Der Regen ließ nach, je weiter sie nach Norden kamen, und sie fuhren vom Highway ab auf eine Landstraße, wo
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