Nach der Hölle links (German Edition)
keinen Hunger.«
Andreas verstand. Sascha brauchte etwas Zeit, um sich zu beruhigen. Die Art, wie er sich schnaufend in die kühlen Lederpolster warf und die Beine verschränkte, sprach Bände. Ein dankbares Seufzen ausstoßend tat Andreas es ihm nach. Erst, als er sich lang ausgestreckt hatte und nach der Fernbedienung griff, merkte er, wie sehr es ihn angestrengt hatte, aufrecht zu sitzen.
Er drückte auf »Play«. Die Disc startete. Während der Vorspann der Science-Fiction-Serie über den Fernseher lief, horchte er in sich hinein und suchte nach Widerstand oder Unbehaglichkeit.
Er fand sie nicht. Es machte den Anschein, als hätte er keine mentale Energie mehr, um gegen Saschas Auftauchen zu rebellieren. Andreas legte die Wange ans Polster und schloss halb die Augen.
Minutenlang verfolgte er die bekannte Serienhandlung. Sie hüllte ihn in einen sicheren Kokon aus Ablenkung, die keine Beschäftigung mit unangenehmen Dingen zuließ. Saschas Anwesenheit war er sich dabei sehr bewusst. Leise, sehr leise fragte er sich, ob es ein Zeichen war, dass er sich ausgerechnet in der Nähe seines Ex-Freunds gehen lassen konnte, als wäre er allein.
Er drohte in einen friedlichen Halbschlaf zu gleiten, als Sascha sich abrupt aufsetzte und lautstark fluchte. Erschrocken fuhr Andreas hoch und sah zu ihm herüber.
»Warum? Warum kann ich mich nicht dagegen abschirmen? Warum kommt sie zu mir durch? Und warum frage ich mich das, obwohl ich genau weiß, warum sie mich so tief treffen kann? Ich meine, ich renne zu diesen blöden Vorlesungen und glaube, irgendwie die menschliche Seele verstehen zu lernen. Ich erkenne Muster. Wenn es Freunden schlecht geht, glaube ich Wege zu sehen, wie es ihnen besser gehen könnte«, dozierte Sascha. »Nur wenn es um mich selbst geht, bin ich am Arsch. Ich will nicht, dass sie diese Macht über mich hat – und gleichzeitig weiß ich, dass es normal ist. Dass man sich seine Eltern nicht aus dem Fleisch schneiden kann. Okay, kann man schon, aber immer für einen Preis. Und ich finde einfach, dass mein bisschen Anderssein diesen Preis nicht wert ist. Es ist ja nicht so, als würde ich nachts Autos anzünden oder bei Neonazi-Aufmärschen mitmachen. Ich tue nichts Schlechtes. Ich schade niemandem. Und trotzdem behandelt sie mich wie Sprengstoff. Als würde ich je Katja schaden. Ich!«
Andreas fühlte sich an eine Gelegenheit erinnert, bei der Sascha ähnlich aufgebracht gewesen war. Auch damals war es um seine Mutter gegangen und es ihr gelungen, ihn bis in die Grundfesten seines Selbst zu erschüttern. Traurig verzog Andreas den Mund. Heute war er klüger. Er mochte keine Universität besuchen, aber man hatte ihn so oft analysiert, dass er wusste, warum Sascha nicht von seiner Mutter ablassen konnte: Er kämpfte um ihre Liebe und Anerkennung. Und sie hatte ihm an diesem Tag deutlich gezeigt, wie schlecht seine Chancen standen.
»Ich weiß jedenfalls, dass du dich für Katja in Stücke reißen lassen würdest«, sagte Andreas ohne Hoffnung, dass seine Worte helfen würden.
Wie erwartet zuckte Sascha schroff die Achseln. »Ja, dir ist das sonnenklar. Aber warum weiß sie es nicht?«
»Weil sie in ihrer Lebensart festhängt. Weil sie blind ist. Oder dämlich«, antwortete Andreas grausamer als er gewollt hatte. »Aber irgendwie ist doch die Hauptsache, dass Katja klar ist, dass du alles für sie tun würdest. Sie weiß bestimmt, was sie an dir hat. So wie du sie mir beschrieben hast, wird sie Gift und Galle spucken, wenn sie von der Sache erfährt.«
»Soll ich dir mal etwas sagen? Ich habe keine Ahnung. Katja hat sich verändert. Sie ist nicht mehr so wie früher. Nicht mehr so wild. Vielleicht gibt sie meiner Mutter früher oder später recht. Vielleicht hat sie auch einfach recht.«
Saschas Resignation zog sich durch den Raum wie ein unsichtbarer Riss. Andreas war bestürzt und wusste nichts zu erwidern. Er glaubte auch nicht, dass es Worte gab, die Sascha aus seinem Loch ziehen konnten. Was sollte er schon sagen: »Nein, auf keinen Fall. Deine Mutter spinnt, du bist super«?
Sacht biss Andreas sich auf die Unterlippe und überlegte. Dann, als sich das Bild des frustriert auf der Couch kauernden Saschas in seine Netzhaut gebrannt hatte, begann er zögerlich: »Weißt du, was ich gerade überlege?«
Sein Gast schüttelte stumm den Kopf.
»Eigentlich … wenn wir zwei Mädels wären, würden wir uns einfach zusammen auf eine Seite der Couch schmeißen. Oder wenn du eine Frau wärst und ich
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