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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Kaufman
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sich, dann klopfte er fünf Mal an die Fensterscheibe. Die Vögel flogen weg, alle auf einmal. Im Zimmer wurde es still, und nur noch drei Geräusche waren zu hören: das Trommeln der Regentropfen am Fenster, das Kratzen des Füllers auf dem Papier, als die Bürgermeisterin einen Scheck ausstellte, und das Klingeln von Kenneths Handy.

Neun
    Hli∂afgo∂
    Abgesehen davon, dass sie die körperlichen Voraussetzungen mitbringen, unter wie auch über Wasser zu leben, dass ihre Haut grün ist und sich abhängig von ihrer Gefühlslage verdunkeln oder aufhellen kann, dass sie zwischen Fingern und Zehen Schwimmhäute tragen und durch seitlich am Hals sitzende Kiemen atmen, sind die Hli∂afgo∂ uns bemerkenswert ähnlich. Die Paare schließen einen Bund fürs Leben, obwohl es immer öfter zu Scheidungen kommt, und die meisten heterosexuellen Paare haben zwei oder drei Kinder.
    Die Hli∂afgo∂ - das ∂ wird so gesprochen wie das th in »the« - bevölkern seit Tausenden von Jahren die tiefsten Abgründe der Weltmeere. Aby kam aus Alisvín-bær - das æ wird wie ei ausgesprochen -, einer Stadt im Nordatlantik mit zweieinhalb Millionen Einwohnern, die zwischen den östlichen Ausläufern des Mittelatlantischen Rückens liegt. Aby war im Alter von sechsundzwanzig Jahren nach Alisvín-bær gezogen und mochte die Stadt, liebte sie aber nicht. Das Leben dort war ihr ein bisschen zu hektisch, und während des sommerlichen Golfstroms wurde es in der Innenstadt unerträglich heiß. Die Immobilienpreise waren in der letzten Zeit explodiert, so dass Aby, obwohl sie einen ziemlich guten Job als Schadensreguliererin bei einem großen Versicherungskonzern hatte, immer noch zur Miete wohnte. Ihr Apartment war klein, ohne gemütlich zu sein, und morgens war es dort zu dunkel. Trotzdem hätte
sich Aby nach zweiundzwanzig Stunden am Steuer des weißen Honda Civic nichts lieber gewünscht, als dort zu sein. Selbst die schlimmsten Unfallfotos, die sie im Laufe ihres Berufslebens hatte sehen müssen, hatten sie nicht so erschreckt wie die Fahrt über den Highway 401.
    Aby wusste nicht, ob sie sich Toronto näherte oder bereits in der Stadt war. Sie hatte den Eindruck, seit eineinhalb Stunden durch dieselbe Stadt zu fahren. Der Verkehr wurde dichter, die Fahrer aggressiver, und die drei Spuren hatten sich plötzlich auf sechs verdoppelt. Kurz nachdem die siebte hinzugekommen war, tauchte hinter Aby ein roter BMW auf und kam so dicht heran, dass sie das Gesicht des Fahrers im Rückspiegel erkennen konnte. Aby war zu verängstigt, um zu bremsen oder die Spur zu wechseln. Sie fürchtete nicht um ihr Leben, sondern um ihre Seele. Der BMW überholte rechts, seinen Platz nahm sofort ein blauer Minivan ein.
    Der Van fuhr ebenfalls schnell und kam immer näher. Aby beschleunigte auf 100 Stundenkilometer, weil sie es für ratsam hielt, sich der Geschwindigkeit der anderen Verkehrsteilnehmer anzupassen. Noch nie war sie schneller gefahren, die Geschwindigkeit kam ihr übertrieben vor und überstieg ihre Fähigkeiten; trotzdem war sie immer noch die Langsamste auf dem ganzen Highway.
    Der blaue Minivan wechselte die Spur, beschleunigte und begann, sie von links zu überholen. Gleichzeitig schloss von rechts ein Lastzug auf. Die beiden Fahrzeuge waren nur unwesentlich schneller als Abys Honda. Sie kamen beide dicht heran und hielten jeweils nur wenige Zentimeter Abstand.
    Aby zählte die Räder des Lastzuges, während der sie überholte. Bei sechs fingen ihre Kiemen unruhig zu flattern an. Bei zwölf hörte sie zu zählen auf und konzentrierte sich darauf, ihren Wagen in der Spur zu halten. Als das achtzehnte Rad
vorbeirollte, stieß Aby einen Seufzer aus. Der Laster zog an und wechselte dann auf ihre Spur. Sie war immer noch nicht entspannt, aber ruhig, zu ruhig, um zu bemerken, dass sie auf die Abfahrtsspur geraten war. Das nächste Schild informierte sie darüber, dass sie in südlicher Richtung auf dem Don Valley Parkway unterwegs war anstatt in westlicher auf dem Highway 401.
    Aby geriet in Panik. Sie schnitt zwei Fahrbahnen, um die erstbeste Ausfahrt zu nehmen, in diesem Fall Bayview Avenue. Dann musste sie sich zwischen Bloor und Bayview entscheiden. Aby wählte Bloor, weil es so ähnlich klang wie Bwoor , der aquatische Heilige der Hoffnung. Aby bog nach links auf die Bloor Street ab in der Annahme, die Straße würde sie zum Highway zurückführen. Sie überquerte eine hohe Brücke, so hoch, dass sie den Highway darunter erkennen konnte, und bog

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