Nach dir die Sintflut
Boden, als er zum Telefon stürzte. Er war nackt und tropfte auf den Hörer. Er wartete das dritte Klingeln ab, bevor er abhob.
»Ja?«, sagte er. Seine Füße machten den Teppich nass, was ihn ärgerte.
»Mr. Anderson Richardson?«
»Ja?«
»Ich rufe im Auftrag von …«
»Verzeihung, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich bin gerade beschäftigt. Geht es ums Regenmachen?«
»Ja.«
»Wann und wo?«
»Äh … ja … also … Morris, Manitoba. Es ist dringend.«
»Das ist es immer.«
»Wie bitte?«
»Ich komme, sobald ich kann.«
Anderson legte auf, weil er schnell wieder in die Badewanne wollte. Erst als er komplett untergetaucht war und die Luft aus seiner Nase in einer langen Blasenkette an die Wasseroberfläche gestiegen war, fiel ihm ein, dass er gar nicht wusste, wo Manitoba lag.
Kenneth Richardson ignorierte die protestierende Sekretärin und platzte mit quietschenden Gummistiefeln und einem langen, tropfenden Regenmantel in das Arbeitszimmer der Bürgermeisterin von Charlotte, North Carolina. Der Regen klatschte beständig und laut gegen das nach Westen gelegene Fenster. Die Bürgermeisterin blieb seelenruhig am Schreibtisch sitzen. Kenneth hatte ihr von Anfang an misstraut.
»Es regnet«, sagte er.
Er zeigte nicht mit dem Finger zum Fenster, er drehte nicht einmal den Kopf. Er starrte die dünne, grauhaarige Frau an, die in Charlotte seit fünf Legislaturperioden in Folge das Bürgermeisteramt innehatte. Die Bürgermeisterin war eine weise, mit allen politischen Wassern gewaschene Frau, die auf den verantwortungsvollen Umgang mit Steuergeldern immer schon besonderen Wert gelegt hatte.
»Ja«, sagte sie, ließ die gefalteten Hände in ihren Schoß sinken und erwiderte Kenneths Blick mit derselben Intensität. »Aber woher sollen wir wissen, dass Ihr Ritual etwas damit zu tun hat?«
Kenneth verstärkte seinen Blick. Dann drehte er sich blitzschnell und ohne jede Vorwarnung um. Tropfen flogen von seinem Regenmantel und landeten an der Schreibtischfront. Drei Schritte, und er stand am Fenster. Die Regenrinnen liefen über, das Wasser sammelte sich in Pfützen und spritzte neben den Autoreifen hoch. Kenneth öffnete das Fenster einen Spaltbreit, weit genug, um den Regen hereinzulassen. Das Wasser sammelte sich auf dem Fensterbrett und tropfte zu Boden.
Kenneth drehte sich wieder zur Bürgermeisterin um, blieb jedoch am Fenster stehen. Er streckte einen Arm nach hinten aus und klopfte dreimal gegen die Scheibe. Augenblicklich landete ein kleiner schwarzer Vogel mit bläulichem Kopf vor dem
Fenster. Der Vogel starrte sie aus gelben Augen an und versuchte dann mit hektischen Bewegungen, sich durch den Spalt zu zwängen. Sein kleiner, spitzer Schnabel schnellte vor und zurück wie eine Nähmaschinennadel.
»Sind Sie sicher?«, fragte Kenneth.
»Absolut.«
»Wir hatten uns auf ein Honorar geeinigt.«
»Aber Sie haben keine Beweise.«
»Die vereinbarte Summe war nicht übertrieben hoch.«
»Wir brauchen Beweise. Haben Sie welche?«
»Ich habe vollstes Verständnis«, sagte Kenneth. Er klopfte drei weitere Male an die Scheibe.
Auf dem Fenstersims landeten vier Vögel, die genauso aussahen wie der erste. Alle fünf versuchten nun, durch den Spalt ins Zimmer zu flattern. Die Bürgermeisterin gab sich unbeeindruckt. Sie lehnte sich zurück. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Kenneth drehte sich zum Fenster um. Er klopfte einmal mit dem Zeigefinger gegen die Scheibe, sehr laut, und trat zurück.
Bald saßen mehr Vögel vor dem Fenster, als das Sims halten konnte. Sie balgten sich um die besten Plätze. Sie stießen ihren bläulichen Kopf in die Lücke, verzweifelt bemüht, irgendwie ins Zimmer zu kommen. Immer mehr Vögel kamen. Immer mehr gelbe Augen starrten durch die Fensterscheibe. Immer mehr gelbe Schnäbel hackten durch den Spalt. Als auf dem Sims kein Platz mehr war, flogen die Vögel gegen die Scheibe. Jeder einzelne Aufprall klang sehr laut. Nach jedem Aufschlag nahm der nächste Vogel Anlauf. Mehr und mehr Vögel warfen sich gegen die Scheibe. Die Zahl der Schnäbel hinter dem Glas schien ins Unermessliche zu wachsen. Das Fenster wurde schwarz, so als wären der Nacht Flügel gewachsen.
»Schon gut! Schon gut! Sie bekommen Ihr Geld!«, rief die
Bürgermeisterin und starrte mit weit aufgerissenen Augen zum Fenster.
Zögerlich betrachtete Kenneth die Vögel. Ja, er brauchte das Geld, aber die Angst der Bürgermeisterin bereitete ihm große Freude. Er rang sechzig Sekunden mit
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