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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Kaufman
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entfremdet dich stärker
    Lewis saß auf der Bettkante, und obwohl er sich dagegen wehrte, musste er weinen. Nach drei lauten Schluchzern und vier tiefen Atemzügen ging er ins Badezimmer, putzte sich die Nase und überlegte, wie er seine Trauer fühlbar machen konnte. Er horchte in sich hinein. Er ermahnte sich, nicht mehr zu denken und nicht mehr zu sprechen, und hielt ganz still. Dabei fiel ihm ein Winterabend siebzehn Monate nach ihrer Hochzeit ein; sie lebten damals immer noch in Halifax und besuchten die Kunsthochschule im zweiten Jahr.
    Sie hatten sich sechs Wochen am Stück gestritten, aber er konnte sich nicht erinnern, worum es gegangen war. Er wusste nur noch, dass er beschlossen hatte auszuziehen und Lisa ihn überredet hatte, noch eine letzte Nacht zu bleiben. Sie schliefen zum letzten Mal miteinander, so überschwänglich und sportlich, dass Lewis sofort danach einschlief. Während er schlief, ging Lisa nach draußen und zerstach alle vier Reifen seines Autos mit einem Steakmesser.
    Am nächsten Morgen stürmte Lewis wütend ins Apartment zurück, um Lisa in der Küche Vorwürfe zu machen. Sie stritt nichts ab. Zuerst war er der Ansicht, sie müsse verrückt geworden sein, was ihn in seinem Entschluss zu gehen nur bestärkte. Aber schon bald interpretierte er die Geste als Beweis einer tiefen Zuneigung. Lewis beschloss zu bleiben unter der Bedingung, dass Lisa für neue Reifen aufkam.

    Erst jetzt, als er im Badezimmer des zweitbesten Hotels von Winnipeg, Manitoba, stand, erkannte Lewis, wie bedeutsam die Situation gewesen war. Damals, als auch der letzte Glanz der Hochzeitsreise verblasst war und die Streitereien und der nasskalte Winter in Halifax ihn erschöpft und entmutigt hatten, wollte er sie verlassen. Wäre er in der Lage gewesen zu fahren, hätte er sich erst wieder umgesehen, wenn es für eine Rückkehr zu spät gewesen wäre. Mit vier simplen Steakmesserstichen hatte Lisa seinen Plan vereitelt und damit nicht nur die Beziehung, sondern ihn selbst gerettet.
    Lewis hob die Augen und betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Er konnte nicht fassen, dass er sie gezwungen hatte, die Reifen zu bezahlen. »Dieses Beispiel«, sagte er zu sich selbst, »beweist eindeutig, was für ein Arschloch du bist.« Er ging ins Wohnzimmer, nahm das Steakmesser von dem Tablett, das er noch nicht in den Flur gestellt hatte, und verließ die Suite.
    Im Aufzug, auf dem Weg nach unten, kristallisierte sich Lewis’ Plan heraus: Er würde die vier Reifen eines Autos zerstechen. Falls er daraufhin immer noch nichts fühlte, würde er sämtliche Reifen eines weiteren Autos zerstechen. Er würde sein Steakmesser in so viele Autoreifen wie nötig stecken. Dabei würde er bei der Zerstörungsarbeit, und das war ihm wichtig, nicht willkürlich vorgehen. Er würde Wagen mit Fließheck auswählen, oder solche mit ausklappbaren Scheinwerfern oder fremden Kennzeichen; auf jeden Fall würden die Autos etwas gemeinsam haben müssen. Lewis wollte Zerstörung, aber nicht ohne Struktur, ohne Leitprinzip und den Anschein von Ordnung.
    Lewis durchquerte die Lobby, nickte Beth zu und befand sich bereits drei Häuserblocks nördlich des Hotels, als er sich für Risse in der Winschutzscheibe als Leitmotiv entschied. Hauptsächlich, weil er gerade an einem BMW mit einem langen,
horizontalen Riss in der Windschutzscheibe vorbeigelaufen war. Lewis kniete neben dem rechten Hinterreifen des Wagens nieder. Er legte eine Hand an die Stoßstange, die sich sehr kalt anfühlte. Er zog das Messer aus der Innentasche seiner Jacke und rammte es mit aller Kraft in den Reifen.
    Dabei fühlte Lewis sich sehr glücklich. Er lauschte dem Entweichen der Luft und riss das Messer auf und nieder, um den Vorgang zu beschleunigen. Als der Reifen sichtbar platt war, versuchte Lewis, das Messer zu befreien. Aber es steckte fest. Erst nach mehreren Versuchen gelang es Lewis, die Klinge herauszuziehen. Mit dem Messer in der Hand umrundete er den BMW und schlitzte im Vorbeigehen alle weiteren Reifen auf. Dann stand er auf der Straße und drehte das Steakmesser zwischen den Händen. Er schaute den letzten drei Reifen beim Plattwerden zu und machte sich dann auf die Suche nach dem nächsten Auto mit angeknackster Windschutzscheibe.
    Winnipeg war eine Präriestadt, umgeben von Farmland und Schotterstraßen, und Lewis hatte Risse in der Windschutzscheibe für ein alltägliches Phänomen gehalten. Aber selbst nach fünfundvierzigminütiger Suche hatte er kein zweites Auto

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