Nach dir die Sintflut
gefunden. Er spielte bereits mit dem Gedanken, das Leitmotiv zu wechseln, als er in die Wolseley Street kam und sein Blick auf einen weißen Honda Civic fiel. Obwohl er noch einen halben Häuserblock von dem Auto entfernt war, konnte er den Riss erkennen, der in der Mitte der Scheibe anfing und sich bis in die linke obere Ecke ausdehnte. Lewis rannte zu dem Auto und kniete sich neben den rechten Hinterreifen. Er zog das Steakmesser aus der Tasche. Er hörte, wie die Fahrertür geöffnet wurde, und hielt ganz still.
Lewis war davon ausgegangen, dass im Wagen niemand saß, hatte das aber nicht überprüft. Er überschlug seine Handlungsmöglichkeiten. Sie schienen begrenzt. Er überlegte immer
noch, was er tun sollte, als er einen grünen Fuß auf den Asphalt treten sah. Der zweite, ebenfalls grün, folgte sogleich. Beide Füße hatten Schwimmhäute und kamen direkt auf ihn zu. Er blieb in der Hocke und hob den Kopf. Eine grünhäutige Frau mit Kiemen am Hals schaute auf ihn herunter. Lewis erkannte sie sofort.
»Wielleicht kwönnen Sie mir welfen?«, fragte sie.
Lewis konnte nicht fassen, dieselbe Kreatur vor sich zu haben, die in Toronto beinahe ihre Limousine aufgespießt hätte. Sein Blick wanderte von ihren Händen zu seinen - dass seine weder grün waren noch mit Schwimmhäuten ausgestattet, kam ihm auf einmal sehr unpassend vor. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. »Bwitte warte hier?«
Lewis nickte und beobachtete, wie sie zur Fahrertür stakste. Sie kam zurück und streckte die rechte Hand aus. Lewis traute sich nicht, sie zu berühren. Nicht aus Ekel oder aus Angst vor der grünen Haut, die tatsächlich ein bisschen schleimig aussah. Lewis wollte sie nicht berühren, weil er wusste, dass er die Realität der Begegnung in dem Fall nicht würde leugnen konnte. Nach einer Weile streckte er den Arm aus. Ihre Haut fühlte sich kühl und trocken an. Sie reichte ihm einen Schlüsselbund.
Lewis erkannte ihn nicht wieder, bis er den Schlüsselanhänger umdrehte und ein Foto von der höchstens zwölfjährigen Lisa und ihrer Familie entdeckte. Obwohl Lewis sich das nur ungern eingestehen wollte, hatte ihm soeben eine grünhäutige Frau in einer Stadt, in der er noch nie gewesen war, ein Foto seiner toten Frau überreicht.
»Kwannst du ihr dwiese bwitte zuwückgewen?«
»Das mache ich.«
»Sehwr wichtig.«
»Das ist ja unglaublich.«
Die Frau erkundigte sich nach dem Weg, aber Lewis konnte ihr nicht helfen. Sie tauschten noch ein paar höfliche Worte über das Wetter aus, dann stieg sie wieder ins Auto.
Nachdem sie davongefahren war, schlug Lewis, immer noch benommen, die Augen nieder und sah das Steakmesser auf dem Asphalt liegen. Die Klinge war leicht verbogen, weil der Honda darübergefahren war. Lewis hielt den Schlüsselbund fest in der rechten Hand, hob das Messer mit der linken auf und steckte es sich zwischen Gürtel und Hosenbund. Er blieb minutenlang auf dem Bordstein sitzen. Auf dem Rückweg zum Hotel ließ er das Messer zwischen die Gitterstangen eines Gullys fallen.
7
Nur ja nichts unterdrücken: Rebecca (dritter Teil)
Vierundzwanzig
David Sharpen
Um 6.05 Uhr, einen Tag, nachdem sie alle Stewart-Kartons in den Müllcontainer geworfen hatte, saß Rebecca allein im Labor und stellte eine Liste der Aufgaben zusammen, die sie seit dem Tod ihrer Schwester zu erledigen versäumt hatte. Als sie fertig war, standen siebzehn Punkte auf der Liste, die jeweils ihre ungeteilte Aufmerksamkeit erforderten. Drei davon schaffte Rebecca, bevor die meisten ihrer Kollegen eintrudelten. Bis zum Mittag waren es zwölf. Um 13.15 Uhr strich sie »Kreuzschraffur« durch, den letzten Punkt auf der Liste.
Rebecca saß an ihrem Schreibtisch, seufzte laut und zufrieden und drehte sich im Uhrzeigersinn auf ihrem Drehsessel herum, als sie plötzlich Papiergeraschel hörte. Sie drehte sich um und entdeckte David Sharpen, den neuen Phlebologen aus dem sechsten Stock. Er hielt eine Blutprobe in der linken und einen Zettel in der rechten Hand. Sie war überrascht darüber, dass er die Probe persönlich heruntergebracht hatte, und sie fragte sich, seit wann er dort stand.
»Seit wann stehen Sie da?«, fragte sie.
»Sie arbeiten heute wohl sehr konzentriert.«
»Das tue ich.«
»Kann das hier heute noch raus?«
»Was brauchen Sie?«
»Ein großes Blutbild. Und Glukose, ist besonders wichtig.«
»Das sollte kein Problem sein«, sagte Rebecca. Sie nahm die
Blutprobe und den Zettel entgegen. Sie hatte sich bereits an
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