Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
sie. Jetzt konnte er in Ruhe sterben, dachte sie. Ihr Haar war beim Gang zumAuto zerzaust worden, der Wind hatte ihr fast den Schirm aus der Hand gerissen. Sie richtete ihre Frisur im Spiegel und lächelte Wilbur zu.
    Wilbur presste die Lippen zusammen und hob die Mundwinkel ein wenig. Die vier Hefte, die er sich unter den Pullover geschoben hatte, ließen ihn mit geradem Rücken sitzen. Er gähnte laut, damit er für den Rest der Fahrt die Augen schließen konnte. Er legte den Kopf ans Polster und verdrängte die Vorstellung, in einem U-Boot durch ein dunkles Meer zu gleiten.
     
    Colm Finnerty wurde krank. Die Frauen des Ortes sagten, er leide an der Schwermut, bald würde er das Trinken beginnen. Die Wahrheit war, dass Colm von einer Müdigkeit ergriffen wurde, die ihm an manchen Tagen alle Kraft aus dem Körper nahm. Dann lag er da und hörte die Tiere im Stall, schlug sich mit den Fäusten auf die tauben Beine und humpelte Stunden später zum Vieh, um es zu füttern und auf die Weide zu lassen. Der Arzt kam und untersuchte ihn, und es war nicht Schwermut, die er feststellte, sondern beginnender Muskelschwund.
    Nur Wochen später hatte Colm seinen Hof verlassen und war plötzlich einer der Senioren, um die sich Pauline und Henry ehrenamtlich kümmerten. Das Vieh und der Traktor wurden verkauft, nach einem Testament wollte man Colm noch nicht fragen. Henry und zwei weitere Männer des Vereins fuhren in einem Lieferwagen hinaus, um die paar Habseligkeiten, die man Colm zugestand, ins Heim zu schaffen. Wilbur hatte darauf bestanden, beim Umzug zu helfen, und obwohl Pauline dagegen war, nahm Henry ihn mit. Der Lieferwagen war mit DEMPSEY BUTCHERS beschriftet, und Wilbur wurde während der Fahrt so elend, dass der Fahrer zweimal anhalten musste.
    Als sie leise wie Diebe das Haus betraten und wortlos durch die Räume streiften, fühlte Wilbur sich noch schrecklicher. Er folgte den Männern, unfähig, etwas zu tun, und sah ihnen zu, wie sie Schranktüren öffneten, Schubladen aufzogen und Gegenstände in die Hand nahmen und abwogen, ob sich ihre Aufbewahrung lohne, wie sie Möbel und Matratzen in den Hof trugen und ein Feuer machten, Bilder abhängten und Teppiche aufrollten und Vorhänge herunternahmen. Während die Männer ihr Unbehagen bald abgelegt hatten und angesichts der Füllean angesammelten Dingen immer unzimperlicher wurden, kam Wilbur sich schuldig vor, wie ein Mittäter bei der Zerstörung von etwas, dessen Wert übersehen oder missachtet wird. Ein Teil von Colms Leben war zu Plunder geworden, zu lästigem Ballast, der bald als Asche über den leeren Hof wehen würde. Er stellte sich Colm vor, wie er in seinem neuen Zimmer saß und darauf wartete, keine Angst mehr zu haben vor den vier Wänden und dem Geruch nach Reinigungsmitteln und den fremden Geräuschen. Wie er Dinge aus dem Koffer nahm, sie ansah und zurücklegte, statt sie in den Einbauschrank zu räumen. Und wie er sich aufraffte und ans Fenster trat, um auf das gemähte Stück Rasen zu starren, wo keine Kälber Bocksprünge machten und keine Schafe grasten und den Kopf hoben, wenn er mit sanfter Stimme nach ihnen rief.
    Während das Feuer loderte, ging Wilbur durch die Scheune und überzeugte sich davon, dass kein Tier darin vergessen worden war. Er nahm eine Handvoll Stroh und steckte es in die Hosentasche. Danach ging er ins Haus, und obwohl Henry meinte, es würde zu lange dauern, wickelte er jede Tonfigur in Zeitungspapier und verstaute sie ebenso in Kisten wie die Bücher.
    Stunden später fand er in der Kommode neben dem Bett einen Artikel aus dem Donegal Democrat , der Orlas Streit mit der Erziehungsbehörde zum Inhalt hatte. Ein Schwarzweißfoto zeigte Orla vor der Schule stehend. Sie hatte eine Hand erhoben und war im Begriff, sich abzuwenden, was den vom Reporter beabsichtigten Effekt erzielte, sie unfreundlich und schuldbewusst aussehen zu lassen. Die Artikelüberschrift lautete: SELBSTERNANNTE LEHRERIN GIBT NICHT NACH , und unter dem Bild stand: »Starrköpfig bis in die letzte Instanz: Orla McDermott«.
    Wilbur saß auf dem Bettgestell und las den Artikel zweimal hintereinander. Dass er weinte, merkte er erst, als Henry ins Zimmer trat und fragte, was passiert sei. Henry sah den Zeitungsausschnitt, seufzte und setzte sich neben Wilbur. Zuerst wusste er nicht, was er sagen sollte, zupfte Staubflusen von den Ärmeln seiner Strickjacke und sammelte sie in der Faust. Er überlegte lange, wie er den Jungen trösten könnte, dann sagte er,

Weitere Kostenlose Bücher