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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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stellte sich vor, wie er sie mit einem Stein zertrümmerte, aber dann legte er sie wieder hin.
    Eamon saß da und rührte sich nicht. Was für eine Verschwendung,dachte Wilbur, ein schlagendes Herz, sich füllende und leerende Lungen, all das Blut, das durch einen nutzlosen Körper floss.
    »Ich hasse dich«, sagte er zu dem alten Mann. Eine Weile stand er hinter ihm und wartete, ob sein Großvater eine Regung zeigen würde. Manchmal bewegten sich die dünnen Finger, oder das sirrende Atemgeräusch wurde lauter, dann war er wieder eine bloße Hülle, getragen von einem brüchigen Skelett und matt erleuchtet von einem einzelnen Funken Leben.
    Als es an der Tür klopfte, erschrak Wilbur. Für eine Sekunde hatte er geglaubt, das Geräusch komme aus Eamon. Eine Frau mit einem Stapel Wäsche betrat das Zimmer. Sie war jung und dünn und hatte das Haar straff nach hinten gekämmt und zu einem Knoten geballt, wie es alte Frauen taten.
    »Ich bringe die Wäsche«, sagte die Frau. Ein winziger Stein blitzte an ihrem Nasenflügel auf. Sie ging zum Schrank, öffnete ihn und legte Hemden, Hosen und Unterwäsche auf Regale. Der Ärmel ihres Kittels rutschte zurück und entblößte eine Tätowierung an ihrem Handgelenk, eine grüne Eidechse.
    Wilbur hatte kurz genickt und stand nun verlegen da. Er öffnete die Blechdose und nahm einen Keks heraus, den er dem alten Mann zwischen die Finger schob.
    »Du bist der Enkel, stimmt’s?« fragte die Frau. »Wilbur.« Sie lachte über Wilburs erstauntes Gesicht, bückte sich und zog eine Pappkiste aus dem Schrank hervor. »Das solltest du dir ansehen.« Sie nahm den Deckel ab und schob die Kiste ein Stück in Wilburs Richtung.
    Wilbur zögerte, dann ging er in die Hocke und nahm eine zerlesene Bibel und mehrere Ausgaben einer Zeitschrift mit dem Titel The Messenger in die Hand. Das Exemplar, das Wilbur durchblätterte, war aus den sechziger Jahren, und das Papier so spröde, dass es brach.
    »Das ist bloß religiöser Kram«, sagte die Frau. »Die Hefte weiter unten sind interessanter.«
    Wilbur nahm einen Stapel Zeitschriften aus der Kiste und legte ihn auf den Boden, dann holte er eins der Wachstuchhefte hervor und schlug es auf. Linierte Seiten waren mit handschriftlichen Eintragungen gefüllt, jedem Abschnitt war ein Datum zugeordnet. Wilbur sah die Frau an.
    »Tagebuch«, sagte die Frau. Sie bot Wilbur einen Kaugummi an, aber der schüttelte den Kopf. »Du kommst auch drin vor.« Sie steckte sich einen Streifen in den Mund und begann, die Bettwäsche abzuziehen.
    Wilbur setzte sich hin und las. Das Heft war aus dem Jahr 1972. Eamon schrieb in unzusammenhängenden Sätzen über alles Mögliche, Zeitungsmeldungen, Stürme, Kopfschmerzen, Träume, Erinnerungen. Zwischen einigen Absätzen waren Kritzeleien, Zeichen, Symbole. Ein paar davon sahen aus wie Skizzen, ungelenke Zeichnungen, die nichts darstellten und doch winzigen komplizierten Plänen glichen. Für Wilbur ergab keiner der Einträge irgendeinen Sinn. Er legte das Heft weg und nahm ein anderes hervor. Hier enthielten die Seiten kaum noch Worte, geschweige denn ganze Sätze. Zeichnungen überwogen, kindliches Gekritzel, zwischen denen sich Buchstaben verloren. Wilbur erschrak, als er seinen Namen entdeckte.
    »Das zweitletzte Heft ist das seltsamste«, sagte die Frau. »Das schwarze.« Sie hatte das Bett frisch bezogen, nahm die alte Wäsche vom Boden und ging zur Tür. »Sei ihm nicht böse. In seinem Kopf ist ein Trümmerhaufen.« Sie öffnete die Tür. »Ich sag deinen Eltern, du seist noch eine Weile beschäftigt, okay?«
    Wilbur nickte. Die Frau lächelte und verließ das Zimmer. Wilbur nahm das schwarze Heft vom Stapel und schlug es auf.
     
    Eine Stunde später fuhren sie zurück nach Portsalon. Die Straße tauchte aus der Landschaft auf wie ein Tau aus schmutzigem Wasser. Der Regen schlug auf das Blech des Wagens und strömte über die Windschutzscheibe, er floss durch Wilburs Spiegelbild und rauschte unter ihnen hindurch. Henry fuhr so langsam, dass ein Traktor sie überholte. Ab und zu hielt er an und wartete, aber es wurde nicht besser. Wenn eine Böe das Auto erfasste, duckte er sich und murmelte leise, als wolle er die Elemente beschwichtigen. Am Rückspiegel pendelten ein Rosenkranz und ein silbernes Kreuz.
    Pauline ließ sich vom Wetter die gute Laune nicht verderben. Sie war stolz auf Wilbur, der seinem Großvater so lange Gesellschaft geleistet hatte. Jetzt habe der alte Mann seinen Seelenfrieden gefunden, sagte

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