Nach Hause schwimmen
Mannschaftsspiele war und nie freiwillig in ein Team gewählt wurde. Auch ein eigens für das Sorgenkind ausgearbeiteter Aufbauplanfruchtete wenig, und als Wilbur nach einem halben Schuljahr beim Völkerball am Kopf getroffen wurde und ohnmächtig niedersank, sah Pat die Vergeblichkeit seiner Bemühungen ein und befreite Wilbur vom regulären Sportunterricht.
Weil Sport auf dem Unterrichtsplan stand, musste Wilbur, zusammen mit dem halbblinden Ewan Swann und Jack O’Rourke, der einen Klumpfuß hatte, unter der Anleitung von Harrahills schwangerer Frau Caitlin zwei Stunden pro Woche ein leichtes Gymnastikprogramm in der alten Turnhalle absolvieren. Sie erfanden Spiele wie Medizinballrodeo, Mattenkullern und Bankrobben, und Wilbur bastelte einen Klingelball. Wenn das Wetter schön war, gingen sie einfach spazieren, manchmal hüpften sie in der Halle herum und stießen Tierlaute aus. Die Mitschüler nannten sie das Krüppel-Trio, aber Wilbur kümmerten ihre Anfeindungen schon lange nicht mehr. Eine Stunde mit der lauten, fröhlichen Caitlin, die regelmäßig Süßigkeiten mitbrachte und auf einem Kassettengerät Rockmusik abspielte, war tausendmal besser als eine Sekunde in Taggarts verfluchtem Tempel.
Miss Fergusons Stolz auf ihren ehemaligen Schüler Wilbur Sandberg blieb auch nach dessen Fortgang ungemindert. In der Kirche war sie nach seinem musikalischen Vortrag aufgesprungen und hatte so hingerissen applaudiert, dass einige der Anwesenden fanden, ihr Verhalten sei dem Anlass nicht ganz angemessen. Dabei hatte sie sich sogar zurückgehalten und dem Verlangen, nach vorne zu stürmen und Wilbur abzuküssen, nicht nachgegeben. Ihrer Schwester, die in England lebte, erzählte sie am Telefon seit Monaten nur noch von dem kleinen Wunderknaben, der seine überragende Intelligenz nun auch noch mit anbetungswürdigem Cellospiel krönte. Nach dem Unterricht hatte sie Wilbur einmal gebeten, Fotos von ihm machen zu dürfen, damit das Objekt ihrer Hymnen auch in Liverpool ein Gesicht erhielt. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie Wilbur Sandberg vergötterte und vermisste, und niemanden in Portsalon hätte es verwundert, wenn sie eines Tages eine selbstgefertigte Büste des Jungen auf ihr Pult gestellt hätte.
In den Wochen, bevor sie ihren Liebling an die neue Schule verlor, behielt sie ihn nach dem Unterricht öfters zurück, um ihm zu versichern,wie sehr sie seinen Fleiß und seine Begabung bewunderte und wie sehr sie sich wünschte, noch mehr Schüler wie ihn zu haben. Sie meinte, Wilbur solle sich die täglichen Gemeinheiten der Klassenkameraden nicht zu Herzen nehmen und prophezeite ihm eine Zukunft, die glorreicher sei als die aller Nichtsnutze der Portsalon National School zusammen. Dann sah sie nach, ob die anderen Kinder das Schulgelände verlassen hatten, und schickte Wilbur, wenn die Luft rein war, nach Hause. Oft stand sie noch am Fenster, obwohl sie den Jungen längst nicht mehr sehen konnte, und weinte still vor sich hin.
Jemand rief aus dem Heim an, in dem Eamon untergebracht war. Es gehe ihm jeden Tag schlechter, wer ihn noch lebendig sehen wolle, verliere besser keine Zeit. Pauline meinte, es sei Wilburs Pflicht, seinen Großvater ein letztes Mal zu besuchen. Möglicherweise habe er nach seinem Enkelsohn gefragt, und wenn ihm dieser letzte Wunsch nicht erfüllt werde, finde er im Jenseits keine Ruhe, während Wilbur sich im Diesseits ewig Vorwürfe machen werde. Henry sah die Sache pragmatischer und erklärte Wilbur, es sei im Hinblick auf ein Testament nicht ratsam, Eamon McDermott auf dem Totenbett zu verstimmen. Aber Wilbur wollte diesen alten verrückten Mann nicht sehen, so nah am Tod schon gar nicht. Er brachte vor, üben zu müssen wegen des Moorhead-Stipendiums, eine baldige Einladung zum Vorspielen sei nicht auszuschließen.
Er bat Matthew um Hilfe, aber auch der konnte nichts für ihn tun, und so saß Wilbur eine Woche später auf dem Rücksitz des polierten Wagens und hörte während der ganzen Fahrt Pauline und Henry zu, die sich nicht einigen konnten, welches der einfachste Weg nach Milford sei. Weil Pauline sich stets durchsetzte und Henry keinen Orientierungssinn besaß, verfuhren sie sich auf den zwanzig Kilometern dreimal.
Als sie ankamen, goss es in Strömen aus einem bleigrauen Himmel. Das Heim, ein dreigeschossiges Hauptgebäude und zwei flache Nebentrakte, stand etwas entfernt von zahllosen identischen Einfamilienhäusern auf einem riesigen Feld am Ortsrand. Während Henry
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