Nach Hause schwimmen
meiner Größe, keinen Helm. Aimee schiebt den Zuckerstreuer an den Tischrand. Der Mann nimmt ihn, bedankt sich und geht zurück zu den anderen.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Du bist Journalistin«, sage ich. Dampf steigt aus meiner Tasse, trüge ich eine Brille, würden sich die Gläser beschlagen.
»Nein. Jedenfalls noch nicht. Vielleicht, wenn ich diesen Artikel geschrieben habe, ich weiß nicht.« Sie legt die Wollkugel in die Untertasse und trinkt einen Schluck Kaffee. Ein schmaler Streifen Milchschaum klebt an ihrer Oberlippe, bis sie ihn mit der Zungenspitze wegwischt. »Da drin nehmen Männer sich das Leben, weil Vermeer neue Behandlungsmethoden an ihnen testet. Ärzte bekommen Geld, damit sie falsche Totenscheine ausstellen.« Aimee macht eine Pause. Bestimmt erwartetsie, dass ich den Kopf hebe und sie erstaunt ansehe. Aber ich halte den Blick gesenkt. »James Foster schluckt Glasscherben und verblutet, stirbt aber offiziell an Darmkrebs. Edward Holbrook stülpt sich einen Plastikbeutel über den Kopf und erstickt, der Arzt macht ein Lungenversagen daraus. Roger Willett trinkt Chlor, und seiner Familie wird gesagt, es sei ein Herzinfarkt gewesen.«
»Roger mit den Zeitungsausschnitten?« Ich sehe Aimee an.
»Vor fünf Tagen«, sagt sie leise. »Er hat sich zur Arbeit im Schwimmbad gemeldet, nur um an das Gift ranzukommen.«
Ich bringe keinen Ton hervor. Roger hat sich umgebracht. Er und seine Familie gehörten zu den Bewohnern eines kleinen Ortes in Tennessee, deren Leben durch einen Chemiekonzern zerstört worden waren. Ihr elfjähriger Sohn starb an Leukämie, wenige Wochen nachdem ein Gericht den Betroffenen Wiedergutmachungsgeld zugesprochen hatte. Die Firma schloss die Niederlassung in Tennessee und ließ in dem Ort drei Todesopfer und mehr als zweihundert entlassene Arbeiter zurück. Ein paar Verantwortliche gingen für kurze Zeit ins Gefängnis. Roger benutzte das Geld, um die Umweltverbrechen anderer Firmen aufzudecken. Seine Frau nahm ihren Anteil und ließ sich von ihm scheiden. Roger verkaufte das Haus, reiste durch das Land und half beim Aufbau von Bürgerinitiativen, die gegen fahrlässig handelnde Konzerne prozessierten und meistens verloren. Er hielt Reden vor zwanzig und zweihundert Leuten und schrieb Artikel, er gab Lokalzeitungen Interviews und saß in winzigen Radiostudios, er bezahlte Rechtsanwälte und wohnte in billigen Motels, er vergaß zu schlafen und zu essen und begann zu trinken. Zwei Jahre lang schaffte er es, keine Zeit zum Trauern um seinen Sohn zu haben. Als das Geld und das Interesse der Medien an seiner Mission versiegt waren, hängte er sich mit seinem Gürtel an ein Wasserrohr in der Waschküche eines Motels. Er war bewusstlos, als die Halterungen des Rohrs aus der Decke brachen. Das Journey’s End Motel lag am Ortsrand von Bloomington, New York. Von dort war es nicht sehr weit bis zu Vermeers luxuriösem Auffanglager.
Das alles habe ich aus den Artikeln, die Roger mir stumm vor die Füße gestellt hatte, den Rest von Melvin.
»Der Artikel ist fast fertig«, sagt Aimee. »Ich dachte, vielleicht liestdu ihn mal. Wir könnten darüber reden, und du sagst mir, ob noch was fehlt.«
»Ich glaube nicht«, sage ich nach einer Weile. Ich habe nicht darüber nachgedacht, was Aimee gesagt hat. Ich habe mich gefragt, ob Roger jetzt bei seinem Sohn ist. Ob es tatsächlich einen Himmel gibt, wo alle einander wiedersehen. Und ob meine Mutter und Orla da oben auf mich warten, egal, wie lange es dauert. Als Kind lag ich nächtelang wach und stellte mir diese Fragen. Ob es ein Jenseits gibt, oder ob das bloß eine Erfindung der Kirche ist, ein falsches Versprechen, eine Lüge, damit wir das Diesseits ertragen. Aimee redet, ihre Stimme ist weit weg, und ich frage mich, ob Roger im Paradies ist oder einfach nur tot, zurück im Nichts, erlöst von allem Schmerz.
»Was Vermeer und die Ärzte da tun, ist illegal«, sagt Aimee. Sie spricht lauter, weil sie weiß, dass ich ihr nicht zuhören will. »Pingpong statt Psychopharmaka klingt schön, aber es ist unverantwortlich. Wir reden hier nicht von Männern mit kleinen Nervenzusammenbrüchen. Ihr habt versucht, euch umzubringen, Herrgott!«
Ich will ihr noch einmal sagen, dass ich mich nicht umbringen wollte, lasse es dann aber bleiben. Plötzlich bin ich sehr müde. »Man hat sich gut um mich gekümmert. Ich habe Medikamente bekommen.«
»Auf der Krankenstation, ja. Schlaftabletten. Beruhigungspillen.« »Ich konnte
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