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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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vorkam, und Comics gab es in der Bibliothek nicht, dafür sorgte der Direktor persönlich. Moriarty wiederum ließ sich von verschiedenen Leuten beraten, Freunden meistens, die allesamt in Kirchengruppen, Gemeindeverbänden, katholischen Frauenzirkeln und sonstigen honorigen Verbindungen saßen.
    Dafür, dass nichts Triviales oder gar Anrüchiges den Weg in die Regale der Four-Towers-Bibliothek fand, war gesorgt, und auch dafür, dass kaum ein wirklich guter zeitgenössischer Roman greifbar war, der den vermauerten Horizont eines dahindämmernden Jungen vom Land hätte sprengen können. Wilburs Liste der fehlenden Autoren war lang, sie reichte von Nelson Algren über Roddy Doyle bis zu Kurt Vonnegut und füllte drei Seiten. Ab und zu veränderte, kürzte und entschärfte er diese Liste und zeigte sie Moriarty, der sie zur Prüfung seinen Freunden und Sittenwächtern faxte und dann das eine oder andere Buch für gefahrlos genug befand und seinen Kauf bewilligte. So kamen die nach Weltliteratur lechzenden Insassen von Four Towers zu Werken wie Steinbecks Straße der Ölsardinen , Doyles Commitments oder den gesammelten Erzählungen von Carson McCullers. Weil Wilbur und einer der anderen drei Bibliothekare, ein Junge namens Colum Noland, die einzigen waren, die diese Bücher auch wirklich lasen, manipulierten sie die Ausleihstatistik ein wenig zu ihren Gunsten. Damit sorgten sie sowohl für steten Nachschub an gehaltvoller Literatur als auch für einen zufriedenen Direktor, der von der geistigen Reife eines Teils seiner Schützlinge hingerissen war und seine Bemühungen belohnt sah.
     
    Die Arbeit in der Bibliothek, bei der sich die vier Jungen im Wochenrhythmus abwechselten, war ein willkommener Kontrast zur stupiden Tretmühle der Werkstatt, aber worauf Wilbur sich wirklich freute, war die Fertigstellung des Kraftraums. Nach elf Wochen, während derer er und vierunddreißig andere Jungen feuchten Verputz von Kellerwänden geklopft und weggekarrt, verfaulte Bodenbretter entfernt und Lehm und Schutt herausgeschaufelt, mit Isolationsmaterial, Gipsplatten, Beton und Mörtel hantiert, einen neuen Boden eingezogen, die Wände neu verputzt und gestrichen, eine Heizung und Beleuchtung installiert undParkett und Teppich verlegt hatten, war der Raum fertig. Was jetzt noch fehlte, waren die Hanteln und Gewichte, die Bänke und Rudergeräte und Sandsäcke.
    Wilbur hatte in einem Wissenschaftsmagazin, das ein Arzt der Bibliothek aus seinen Wartezimmerbeständen überließ, einen Artikel über Bodybuilding gelesen und sich vorgenommen, endlich ein paar Muskeln zuzulegen. Er war jetzt siebzehn Jahre alt, einen Meter siebenundfünfzig groß und wog lächerliche achtundvierzig Kilo. Es gab in Four Towers nur noch einen Jungen, der so kurz geraten war. Sein Name war Danny McAllister, aber alle außer Wilbur nannten ihn Midge, kurz für Midget, Liliputaner. Danny war sechzehneinhalb, vier Zentimeter kleiner als Wilbur, dafür elf Kilo schwerer. Er hatte Wilbur auf die Gruppe aufmerksam gemacht, die im Keller einen Kraftraum baute, und ihn dazu überredet, ihr beizutreten. Danny war pummelig und kurzatmig und fest entschlossen, etwas daran zu ändern. Zusammen saßen sie in der Bibliothek und lasen Berichte über Gewichtheben und Muskelbildung, über Eiweiße, Ernährung und Anabolika. Sie lasen das Buch eines ehemaligen Mister Universum mit dem Titel Pump It Up! , in dem viel von Leiden und Schmerzen die Rede war. Sie lernten die Namen von Muskeln auswendig, Trapezmuskel, Deltamuskel, Bizeps, innerer schräger Bauchmuskel, Strecker, Beuger. Wilbur übertrieb es wie immer und las auch alles über Sarkoplasma, Endomysium und Azetylcholin, bis er mit sämtlichen Abläufen innerhalb seiner unterentwickelten Muskulatur vertraut war.
    »Protein«, sagte Danny, als sie beim Mittagessen saßen. Es gab Kartoffelbrei, grüne Bohnen und eine Scheibe Rinderbraten, zum Nachtisch Apfelkompott.
    »Was ist damit?« Wilbur zwang sich, seinen Teller zu leeren und dabei nicht an Pauline Conway zu denken. Er hatte die Absicht, mehr zu essen und schwerer zu werden. Vielleicht würde er dadurch auch noch wachsen.
    »Wir werden eine Menge davon brauchen«, sagte Danny. »Eier wären nicht schlecht.«
    Wilbur dachte nach. »Ich werde mit Geraldine reden.«
    Es wäre übertrieben gewesen zu behaupten, die Köchin im Four Towerssei bestechlich. Aber das Gerücht hielt sich, Geraldine Dunne sei gegen Bezahlung eines bescheidenen Betrages bereit, den Jungen

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