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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Richtung und kollerte mir vor die Füße. Der Kerl, der mit seinen langen Armen kein übler Fänger war, holte den Ball. Ich legte rasch die Sportbeilage auf den Kulturteil der New York Times vom Vortag und reichte ihm das abgegriffene Leder. Er sah mich an und fragte, ob ich mitspielen wolle. Ich dachte, ich hätte ihn falsch verstanden, sagte nur so etwas wie »nettes Spiel«, aber dann meinte er, sie bräuchten einen zwölften Mann und in der Zeitung stünde eh bloß Mist. Er grinste und drehte den Ball in der Hand und hörte nicht auf seine Kumpel, die ungeduldig wurden. Ich schätze, der Bursche war vierzehn, vielleicht fünfzehn, auf seinem Leibchen stand KILLER WHALE . Mir wurde schlagartig bewusst, dass er mich für etwa gleich alt halten musste.
    Ich bin jetzt zwanzig Jahre alt und einen Meter einundsechzig groß, wiege dreiundfünfzig Kilo und sehe aus wie fünfzehn, nach einer schlaflosen Nacht und bei schlechter Beleuchtung wie sechzehn. Wenn ich Glück habe, lässt man mich mit dreißig in ein Pornokino, ohne meinen Ausweis zu verlangen, und sollten mir mit vierzig endlich graue Haare wachsen, werde ich im Supermarkt vielleicht nicht mehr von minderjährigen Mädchen angesprochen, die sich mit mir verabreden wollen. Manchmal stelle ich mir vor, wie ich aussehen werde, wenn ich so alt bin wie Dobbs oder Spencer, also Ende siebzig, Anfang achtzig, und sehe einen alten Sack vor mir, der, falls das überhaupt möglich ist, geschrumpft ist und mit trüben Augen aus dem glatten Gesicht eines vergreisten Babys schaut.
    Ich sagte, ich hätte mir vor wenigen Tagen den Fuß verstaucht, erfand eine kleine Geschichte, in der ich mich als Feierabendfußballer darstellte, der im Strafraum hart gefoult worden war. Der Typ sagte, tja, dakönne man nichts machen, ging zurück aufs Feld und schmiss das Brot in den brodelnden See. Als ich etwas später den Park verließ, humpelte ich, was mir erst auffiel, als ich schon auf der Sterling Street stand.
     
    Heute ist etwas Unglaubliches passiert. Spencer hat mit mir gesprochen. Beim Frühstück ist er an meinen Tisch gekommen und hat mich gefragt, ob ich ihn zum Arzt begleiten könne. Der Termin sei um vier und die Praxis ganz in der Nähe. Natürlich sagte ich ja. Spencer bedankte sich und ging auf sein Zimmer. Als er mich ansprach und diese eine Frage an mich richtete, wurde es im Speisesaal still. Sogar Alfred und Enrique hielten für einen Moment die Klappe. Spencers Stimme ist dünn, aber tief, er redet leise und sehr deutlich, mit der flüchtigen Spur eines englischen Akzents. Ich fühlte mich geehrt, und als Mazursky Spencer nachäffte, kippte ich ihm meine restlichen Cornflakes über die Rühreier.
     
    Nach fünf Stunden Schlaf erledige ich meine Arbeit, dusche und trinke einen Kaffee. Um halb vier kommt Spencer in seinem guten Anzug in die Lobby, und wir gehen los. Spencer bewegt sich sehr langsam, und wenn wir die Straße überqueren, hält er sich an meinem Arm fest. Versuche ich mit ihm zu reden, hört er mich wegen des Verkehrslärms nicht, und im Wartezimmer will ich nicht fragen, was ihm fehlt, weil so viele Leute um uns herum sitzen.
    Zu meiner Überraschung hat Spencer schon im Fahrstuhl ein gefaltetes Etwas aus rotem Plastik aus der Tasche seines Jacketts gezogen und aufgeblasen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er mit seinen verschrumpelten Lungen das Ringkissen gefüllt hatte, aber er schaffte es und setzte sich mit einem um Nachsicht bittenden Lächeln darauf. Ich vertreibe mir die Zeit mit dem Durchblättern von Illustrierten, sehe mir Landhäuser in Maine an und die neue Wintermode und den Typ, den Nicole Kidman gerade abserviert hat. Ab und zu lächle ich Spencer aufmunternd zu, jedenfalls hoffe ich, dass es aufmunternd wirkt.
     
    Spencer bleibt ziemlich lange beim Arzt drin. Dann kommt er endlich und strahlt, als wäre er überrascht, mich noch hier vorzufinden. Ich ladeihn zu einem Kaffee in ein russisches Lokal ein, wo er mir bei einem Glas Eistee erzählt, er habe seit über einem Jahr Prostatakrebs. Als ich ihn entsetzt ansehe, lächelt er und sagt, das sei nicht so schlimm, er sei sowieso nicht besonders scharf darauf, neunzig Jahre alt zu werden. Zu meinem Erstaunen äußert er den Wunsch, ins Kino zu gehen. Was wir uns ansehen, ist ihm egal, und so setzen wir uns in einen Science-Fiction-Film, dessen Dolby-Sorround-Getöse sogar Spencers betagte Ohren erreicht. Ich finde den grässlichen Streifen nur deshalb toll, weil er Spencer begeistert.

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