Nach Hause schwimmen
sie zu verlassen. Siesprach kein Wort, verbrachte Stunden in der Badewanne und, eingehüllt in Tücher, auf einem Stuhl in der Küche.
Lawrence, von Sorge um seine Frau getrieben, ließ den Hausarzt kommen, der Vitaminpräparate verschrieb und sich ansonsten ratlos zeigte. Ein befreundeter Psychologe schlug vor, Alice für eine Weile in einem Sanatorium unterzubringen, wo sie zwei Monate blieb, lange Spaziergänge unternahm und wenigstens wieder zu sprechen begann. Die mitfühlende, zärtliche, an Gott und der Welt interessierte Frau, die Lawrence kannte, wurde Alice nicht mehr. Ihre Unfähigkeit, Kinder zu bekommen, hatte sie ein Stück aus dem hellen Leben geschoben, jetzt war sie ein weiteres Stück in die Dunkelheit geglitten. Sie hörte auf, im Büro des Waisenhauses zu arbeiten und sich mit den Kindern zu beschäftigen. Stattdessen begann sie zu malen, ungegenständliche Bilder in dunklen Farben, grundlose Ozeane, düstere Landschaften. Vom Vorschlag ihres Mannes, ein Kind zu adoptieren, wollte sie nichts wissen. Als Lawrence eines Tages mit einem Kind in den Armen nach Hause kam, einem Jungen in dem Alter, in dem Wilbur gewesen war, fing sie an zu weinen und rannte hinaus in den kalten Regen.
Die ganze Nacht blieb sie weg und kam am nächsten Morgen zurück, erneut verstummt und mit einem Fieber, das sie mehrere Wochen ins Bett zwang. Ihr großer, feingliedriger Körper wurde dünn und dann mager, ihre helle Marmorhaut nahm eine fahlgelbe Farbe an, und der verbliebene Glanz verschwand endgültig aus ihren Augen. Irgendwann schnitt sie sich aus einer Laune heraus die langen roten Locken ab und ließ sie im Waschbecken liegen, wo Lawrence sie fand. Seit Wilbur weggeholt worden war, schliefen sie nicht mehr miteinander, sie redeten kaum noch, und wenn, dann bestürmte Lawrence sie mit hilflosen Fragen und verzweifelt optimistischen Zukunftsplänen, schwieg dann aber bald wie seine Frau und versank mit ihr in nächtelanger Apathie und schweren, verstörenden Träumen.
Zwei Jahre lang versuchte Lawrence, seine Frau zu erreichen und zurückzuholen, dann war sein Vorrat an Verständnis, Rücksichtnahme und Verzicht aufgebraucht. Er war dreiundvierzig, und wenn er jemals Kinder wollte, musste er sich bald entscheiden. Nach einem mittlerweile alltäglichen, aber besonders heftig geführten Streit trennte er sich vonAlice und zog nach Baltimore, wo er aufgewachsen war. Ein halbes Jahr später wurde die Ehe geschieden, und Lawrence heiratete eine alte Schulfreundin. Wie um Alice zu verhöhnen, wurde die Frau zwei Monate später schwanger.
Alice Simmons, wie sie jetzt wieder hieß, blieb noch eine Weile in Reading. Sie mietete sich ein möbliertes Zimmer bei einer Frau, die nachts, wenn Alice wach im Bett lag, Akkordeon spielte. Irgendwann hörte sie auf, Leinwände mit dunklen Farben zu füllen, zerschnitt die Bilder mit der Schere und warf sie in den Abfall. Als ihre Ersparnisse aufgebraucht waren, packte sie ihre paar Sachen und fuhr zu ihrem Bruder. Harold Simmons, acht Jahre älter als seine Schwester, war Kurator und verbrachte die meiste Zeit seines beruflichen Lebens mit Reisen, um irgendwo auf der Welt Ausstellungen vorzubereiten und einzurichten. Sein Haus auf Long Island, ein verschachtelter, mit dunklen Holzschindeln verkleideter Bau aus den siebziger Jahren, stand während neun von zwölf Monaten leer und wartete förmlich auf eine erschöpfte, heimatlose Seele wie Alice, um sie zu beherbergen.
Während Harolds Abwesenheit kam zweimal pro Woche ein Gärtner, der nach dem Rechten sah, den Rasen mähte, die Hecken stutzte und den Ford Explorer in der Garage zehn Minuten laufen ließ, damit sich die Batterie auflud. Als Alice einzog, drehte er für sie die Heizung höher, schloss die Gasflasche in der Küche an und zeigte ihr, wo sich der Sicherungskasten befand. Der Mann, nur wenig älter als Alice, hätte sich gerne auch für andere Zwecke zur Verfügung gestellt, aber das Objekt seiner unausgesprochenen Begierde war nicht in der Stimmung, eine eilige, nach Rasierwasser und Rasenmäheröl riechende Affäre mit absehbarem Ende einzugehen.
Nachdem sie alleine war, ging Alice zum Strand. Es war Mitte März, die Abende wurden wärmer, und als die Sonne unterging, setzte sich Alice mit einer Wolldecke um die Schultern in den Sand und sah den Leuten nach, die mit ihren Hunden vorbeigingen. Eine alte Frau mit nackten Füßen winkte ihr zu, und Alice winkte zurück und fühlte zum ersten Mal seit Langem
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