Nach Hause schwimmen
so etwas wie innere Ruhe, eine verwischte Erinnerungan Geborgenheit. Am Abend telefonierte sie noch einmal mit Harold, der ihr versicherte, sie könne so lange im Haus bleiben, wie sie wolle.
Im Jahr darauf kaufte Harold eine Wohnung in London. Weil sein Herz an dem Haus in Sayville hing, behielt er es, was mehr oder weniger bedeutete, dass er es seiner Schwester schenkte. Zwei-, dreimal im Jahr kam er für eine Woche vorbei, hängte ein paar Bilder ab und wickelte Skulpturen in Luftpolsterfolie und packte alles in Holzkisten, die er nach England schicken ließ. Er lud Alice in die besten Lokale der Gegend ein, gab den Versuch auf, ihr das Segeln beizubringen, zeigte ihr stattdessen, wie man Hummer aß, Gemüse einmachte und einen verstopften Siphon reinigte, und verschwand wieder.
Alice verließ Long Island im ersten Jahr nur ein einziges Mal, um für Harold etwas in Manhattan zu erledigen. Sie fühlte sich in dem Haus wohl, machte bei jedem Wetter einen Spaziergang am Strand und vergaß Lawrence schon bald. Um die leeren Stellen an den Wänden zu füllen, fing sie wieder an zu malen. Doch diesmal gerieten die Bilder nicht zu Wegmarken der Verzweiflung, sondern fingen Licht ein und den offenen Himmel, das Meer und Möwen und Wolken, die keine andere Farbe als Weiß hatten. Sie rollte schwere, flauschige Teppiche zusammen und schleppte sie in den Schuppen neben der Garage. Über die schwarzen Ledermöbel legte sie helle Tücher aus Indien, die ein Laden im Ort verkaufte. In der Küche strich sie die dunkelbraunen Schränke weiß und die Wände safrangelb. Truman, der Gärtner und Mann für anfallende Reparaturen, half ihr, die schweren Vorhänge abzunehmen, und sägte unter verhaltenem Protest einen Ast ab, dessen Blätter ein Wohnzimmerfenster verdunkelt hatten. Die unbeholfenen Versuche, bei Alice ein Interesse für seine Person oder zumindest seinen gebräunten Körper zu wecken, scheiterten erneut, und als Alice eimerweise Sand vom Strand hochschleppte, um damit den geteerten Weg zwischen dem Garten und der Garage zu bedecken, erzählte Truman seinen Freunden, Harold Simmons’ Schwester sei möglicherweise verrückt, mit Sicherheit aber lesbisch.
Wäre ihr Konto nicht so gut wie leer gewesen, hätte Alice ein paar Dachfenster einbauen lassen, um mehr Licht in den oberen Räumen zu haben. Ihr Drang nach Helligkeit ging so weit, dass sie an bedecktenund regnerischen Tagen im kleinen Gewächshaus im Garten saß und malte oder las. Nachts ließ sie sämtliche Lampen brennen, auch in den Räumen, die sie nie betrat. Die endlosen Stunden zwischen Sonnenuntergang und Morgendämmerung hasste sie, gegen die Müdigkeit kämpfte sie an, bis sie irgendwo niedersank. Der Schlaf war ihr Feind, in ihren Träumen wurden Tore geöffnet, durch die Angst und Schwäche strömten. Eine Zeitlang schluckte sie Tabletten, die sie wach hielten, bis sie zusammenbrach, dann versuchte sie es mit kurzen, zeitlich kontrollierten Ruhephasen, bei der ihr Schlafmittel halfen.
Als ihre finanzielle Lage kritisch wurde, arbeitete Alice vier Tage in der Woche im Süßwarenladen von Sayville. Der Laden lag neben einer Galerie, die im Sommer Bilder mit Strand- und Hafenszenen an die Touristen verkaufte. Die Besitzerin wollte Alices Arbeiten sehen, stellte zwei davon aus und verkaufte sie. In der Mitte des Sommers kündigte Alice bei Sayville Sweets , um nur noch zu malen. Mit dem Geld, das Lawrence ihr monatlich schickte, und dem neuen Verdienst kam sie gut zurecht, zumal Harold sämtliche Kosten übernahm, die den Unterhalt des Hauses betrafen. Als der Sommer zu Ende ging und die Touristen weniger wurden und schließlich ganz ausblieben, schloss die Galerie bis zur nächsten Saison und die Besitzerin zog in ihr Haus nach Key West. Für kurze Zeit arbeitete Alice als Aushilfe in einer Buchhandlung, und im Winter stand sie nachts im Laden einer Tankstelle hinter der Kasse.
Alice schlief am Morgen ein paar Stunden und malte am Nachmittag Bilder für das nächste Jahr. Sie hatte den Holzfußboden im Wohnzimmer mit alten Laken ausgelegt und benutzte den Raum als Atelier. Weil ihr während der Wintermonate das Licht zu schwach war, kaufte sie gebrauchte Theaterscheinwerfer, die für sie Sonnenlicht simulierten. War der Himmel bedeckt, machte sie nur noch kurze Spaziergänge am Strand, an Regentagen blieb sie im Haus und legte sich in die warmen Strahlen der Scheinwerfer. Ihre Wut über das schlechte Wetter und die Kälte dämpfte sie mit Tabletten.
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