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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ihm zwei Finger auf die Lippen und schüttelte langsam den Kopf. Dann stand sie auf und ging in ihr Zimmer.
    Eine Weile lag Wilbur reglos da und starrte an die Decke, auf der sich, dünn wie draußen der Schnee, eine Schicht Helligkeit ausbreitete. Dann holte er den Koffer unter dem Bett hervor, legte ein Hemd und eine Hose, Unterwäsche und Socken hinein und Colms Nashorn. In der Küche nahm er alles Geld, fast zweihundert Dollar, aus der Notfallbüchse, schrieb ES TUT MIR LEID auf einen Zettel und verließ die Wohnung.
    Das Hotel fand er zufällig. Er war stundenlang durch die von einer seifigen Schneeschicht bedeckten Straßen gegangen und spielte mit dem Gedanken, sich in einer Bar aufzuwärmen, als er das Schild sah. Der Nachtportier, ein südländisch aussehender Bursche mit einem schwer einzuordnenden Akzent, nannte den Übernachtungspreis und verlangte das Geld im Voraus. Er versuchte eine Unterhaltung in Gang zu bringen, gab aber angesichts der Einsilbigkeit seines Gastes schnell auf. Wilbur ging in sein Zimmer im ersten Stock und legte sich hin.
    Eine Stunde später stand er erneut in der Lobby und fragte den Portier nach einer Bar in der Nähe. Er ließ sich den Weg beschreiben, verzichtete auf ein Taxi und ging die fünf Blocks und zwei Querstraßen zu Fuß. Er betrank sich mit drei Eigenkreationen des Barkeepers, süßen Cocktails, die Midnight Mango hießen und das Hirn mit Rum, Cointreau, Gin und Mangosaft verklebten. Musik berieselte ihn und die Stimme eines Mannes, der die Geschichte seiner vier Ehen rezitierte.
    Im ersten Licht des Tages stand Wilbur auf der Straße und konnte sich weder an den Namen des Hotels erinnern noch an die Richtung, in der es lag. Einem Taxifahrer sagte er in einer plötzlichen Eingebung, das Hotel sei nur für Männer, und Minuten später hielten sie vor dem trostlosen Gebäude. Vom Alkohol redselig geworden, war Wilbur in der Stimmung für einen einfältigen Schwatz, eine jämmerliche Herz ausschüttung, eine nach Erlösung winselnde Beichte, aber jetzt hatte der Mann hinter der Empfangstheke kein Interesse mehr. So ließ Wilbur sich ein zweites Mal auf sein neues Bett fallen und glitt durch das lärmende Erwachen Brooklyns in einen zerfransten, nach Zucker schmeckenden Schlaf.
    Am nächsten Tag holte er in einem Schnapsladen Rum und Wodka und verschiedene Obstsäfte und schloss sich damit in seinem Zimmer ein. Wilbur Sandberg, tagelang betäubt von Cocktails, für die er Namen wie Sweet Amnesia , Baccardi Brainwash und Pineapple Paranoia erfand, war einer der wenigen Menschen in New York, die die Silvesternacht, den von düsteren Warnungen begleiteten Wechsel ins nächste Jahrtausend, den Sturz ins prophezeite Chaos verschliefen.

13
    Dobbs besucht mich fast jeden Tag und bewundert den Holzboden, den ich alle zwei Wochen mit Leinöl poliere. Ich schlage vor, dass wir in seinem Zimmer den Teppich ebenfalls herausreißen und die Dielen schleifen und ölen, und Dobbs strahlt. In Winstons Laden habe ich eine Schleifmaschine gefunden, mit der die Arbeit ein wenig leichter zu schaffen ist. Ich frage Randolph um Erlaubnis, und er hat nichts dagegen, solange es nichts kostet.
    Wir schleppen die Möbel auf den Flur, was wegen Dobbs’ steifem Bein ewig dauert. Dann entfernen wir die Sockelleisten und zerren den Teppich von den Dielen, schwitzend und fluchend unter den Masken, die uns vor dem Staub und dem pulverisierten Leim schützen. Der Teppich lässt sich nur in mürben, faserigen Placken vom Untergrund lösen, und wir schneiden ihn in taschenbuchgroße Stücke, die wir in Müllsäcke stopfen. Nach einer Stunde keucht Dobbs dermaßen, dass ich das Herausreißen alleine erledige und ihm das Schneiden überlasse. Drei Stunden später sind wir fertig. Wir schleppen die Müllsäcke hinunter und ignorieren dabei Alfred und Enrique, die wissen wollen, wessen Leiche wir entsorgen.
    An manchen Stellen ist der alte Leim knochentrocken und wie kristallisiert und lässt sich mit dem Spachtel leicht abschaben, an anderen ist er hart und zäh und mit dem Holz eine Verbindung für die Ewigkeit eingegangen. Dobbs und ich knien beziehungsweise liegen bäuchlings auf Schaumstoffkissen wie Archäologen, die ihre eigene unrühmlicheVergangenheit freilegen. Wir arbeiten verbissen, hören Glenn Millers Orchester zu und vertreiben neugierige Gaffer mit flapsigen Antworten. Dobbs schläft in einem der freien Zimmer, das er für die kurze Zeit des Exils heimelig macht, indem er seine Bilder darin

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