Nach Hause schwimmen
vor.
»Hallo«, sagt sie tonlos.
»Hallo«, sage ich, so leise, dass ich es selbst kaum höre. Ich gehe ein paar Schritte auf sie zu. Jetzt erkenne ich den Stapel aus hellen Seiten, der neben ihr am Boden liegt.
»Verfolgst du mich?« Sie streift sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, und das kürzeste, traurigste Lächeln, das man sich vorstellen kann, wischt über ihr Gesicht.
»Ja«, sage ich. Mein Lächeln ist noch dürftiger.
Aimee senkt den Kopf, Wassertropfen glitzern auf ihren Wimpern. »Warum?«
Der Regen, noch eine Spur heftiger geworden, spült mich in Grund und Boden, ich friere und habe das Gefühl, mich langsam aufzulösen, aber ich habe keine Angst zu ertrinken. »Weil ich dich vermisse«, sage ich.
Aimee steht da und sieht mich an, als müsse sie nachdenken über das, was ich gesagt habe. Ich lese die Inschrift auf dem Grabstein. ROBERT J . WARD 1973–1998. Sie dreht sich um. Ich mache noch einen Schritt auf sie zu.
»Mein Bruder«, sagt Aimee.
Ich stehe da und sehe Aimees Rücken, den Hals, an dem feuchte Haare kleben, die Schulterblätter, über die sich nasser Stoff spannt. Ich möchte ihre Hand berühren, von deren Fingerspitzen Tropfen fallen, aber ich lasse es. »Woran ist er gestorben?« frage ich, um irgendetwas zu sagen.
»Er hat sich umgebracht.« Aimee kauert sich hin und reißt ein paar Grashalme aus, die im Spalt zwischen der Platte und dem Grabstein gewachsen sind.
Eine Weile sagen wir beide nichts. Ich gehe in die Hocke und zupfe aus dem schweren Boden, was ich für Unkraut halte. Der Papierstapel ist Aimees Artikel über die Stadt der Selbstmörder. Obwohl die Schrift vom Regen verschmiert ist, kann ich den Titel lesen. Ein Windstoß bewegt eine Ecke des obersten Blattes, und Aimee legt die Hand darauf. Dannnimmt sie mehrere der weißen, rund geschliffenen Steine, die wie grober Kies das Grab einfassen, und beschwert damit den Stapel.
»Hat eine Zeitung ihn abgedruckt?« frage ich.
Aimee schüttelt den Kopf. Sie richtet sich auf, wirft das Gras weg und wischt sich die Hände an den Hosenbeinen ab. »Ich bin keine Journalistin«, sagt sie so leise, dass ich noch einen Schritt näher gehen muss, um sie zu verstehen. »Die ganze Arbeit war umsonst. Es ist ...« Sie hebt die Arme, lässt sie wieder sinken und fängt an zu weinen.
Vielleicht eine Sekunde zögere ich, dann mache ich den letzten Schritt und nehme sie in die Arme. Sie schluchzt und stammelt Satzanfänge gegen meine Brust, und ich streichle ihren Kopf und flüstere Wörter, unbeholfene Trostformeln für uns beide.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seit wir den Friedhof verlassen haben. Jedenfalls regnet es noch immer, und das Lokal, in dem wir sitzen und Kaffee trinken, ist voller Wetterflüchtlinge. Aimee hat die Hände um ihre Tasse gelegt und sieht aus dem Fenster. Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, und weil ich sie nicht nach Robert fragen will, warte ich, bis sie von sich aus erzählt. Ein großer hellbrauner Hund trottet zu ihr und legt ihr die Schnauze auf das Bein. Aimee lächelt überrascht und streichelt seinen Kopf, dann geht der Hund zurück unter den Tisch, von wo er gekommen ist, und legt sich hin.
»Wir hatten auch einen Hund«, sagt Aimee. Sie sieht mich an, und ein Rest des Lächelns liegt auf ihrem Gesicht. »Harpo.« Sie dreht die Tasse zwischen den Händen. »Hattest du einen Hund?«
Ich schüttle den Kopf.
»Hast du Geschwister?«
»Nein«, sage ich.
Aimee sieht zu dem Hund hinüber, der zu schlafen scheint. Ihre Haare sind noch feucht und die Augen gerötet vom Weinen. Sie wendet sich wieder mir zu, spielt mit einem leeren Zuckerbriefchen. »Ich hatte Bobby. Fünf Jahre älter. Er konnte toll zeichnen, Pflanzen, Tiere, einfach alles. Den Hund da hätte er, also ... na ja, jedenfalls, nach dem College hat er als Illustrator gearbeitet. Sachen für Zeitschriften, Werbung, ab und zu Kinderbücher. Ich bin mit achtzehn von zu Hause weg, aberBobby ist bei meinen Eltern geblieben. Sie haben ihm ein Atelier eingerichtet, im Dachstock.« Aimee trinkt einen Schluck Kaffee, bevor sie weiterredet. »Er war schon als Kind seltsam, hat lieber drinnen gesessen und gemalt, statt draußen mit den Nachbarjungs rumzutoben. Er war immer so ernst, weißt du?« Sie sieht mich kurz an, dann senkt sie wieder den Blick. »Wenn ich über die Cartoons in der Zeitung gelacht hab, hat er sich nur gewundert. Meine Eltern fanden das nicht beunruhigend oder so. Sie meinten, er sei eben anders,
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