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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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wird mir klar, dass der Artikel noch immer auf dem Grab ihres Bruders liegt. Ich setze mich aufs Bett. Aimee streckt die Beine aus, trinkt und betrachtet die Zeichnungen.
    »Von wem sind die?«
    Für einen Moment erwäge ich zu behaupten, sie seien von mir, aber Aimee würde mir sowieso nicht glauben. »Spencer«, sage ich. »Ich war heute an seinem Grab.«
    Aimee hat die Zeichnung von sich entdeckt und steht auf, um sie aus der Nähe zu betrachten. »Wow«, sagt sie leise, nachdem sie ewig vor dem Bild gestanden hat. Sie setzt sich zurück in den Sessel und trinkt die Flasche leer. Dann schabt sie mit dem Fingernagel am Etikett, löst kleine Papierfetzen vom Glas.
    »Alles in Ordnung?«
    Aimee sieht mich an, als würde die Frage sie überfordern.
    »Du bist irgendwie seltsam.« Ich gehe zu ihr und knie mich neben dem Sessel hin, lege die Arme auf die Lehne.
    »Ich komme gerade vom Grab meines Bruders«, sagt Aimee ausdruckslos. Sie starrt auf ihre Schuhspitzen. Ich kann das Bier in ihrem Atem riechen.
    »Entschuldige.« Ich berühre ihren Arm. Aus Dobbs’ Zimmer dringt kein Laut. Leise Swingmusik würde jetzt bestimmt helfen. Aimees Gesicht ist verborgen hinter strähnigen Haaren. Ich gehe mit dem Kopf nahe an sie heran, küsse sie auf den Hals.
    »Nicht«, sagt sie leise und dreht den Kopf weg.
    »Warum bist du hergekommen?«
    Aimee schweigt.
     
    Ich bleibe noch einen Augenblick in meiner Haltung, dann setze ich mich zurück aufs Bett. Aimee zupft Papierstückchen von ihren Knien. Ich frage mich, ob ich mich gerade zum Idioten gemacht habe. Wenn ich nachrechne, wie lange wir uns nicht gesehen haben, komme ich auf mindestens zwei Monate, eher drei, mein Zeitgefühl ist mir irgendwie abhanden gekommen. Gut möglich, dass Aimee inzwischen einen neuen Freund hat, falls ich überhaupt jemals ihr Freund war, ihr fester Freund. Vielleicht ist sie mit dem Löwenbändiger zusammen, Stewart, Stew.
    »Wie lange willst du eigentlich hierbleiben?« fragt Aimee plötzlich.
    »Hier im Hotel?« Aimee sagt nichts. »Ich weiß nicht. Bis ich was Besseres gefunden habe.«
    »Was ist das für dich, was Besseres?«
    Offenbar überlege ich zu lange, denn Aimee steht auf und nimmt den Rucksack. Ich bleibe sitzen. »Wohin willst du?«
    »Nach Hause.« Sie öffnet die Tür und geht hinaus.
    Ich springe vom Bett hoch und laufe ihr nach. »Was hast du denn?« Aimee antwortet nicht. Sie geht den Flur entlang und zur Treppe, als müsse sie einen Zug erreichen. »Aimee?«
    »Lass mich.« Aimee geht die Stufen hinunter.
    »Bist du mit Stewart zusammen?«
    Aimee bleibt stehen, dreht sich um und sieht mich an. Es dauert eine Weile, bis sie etwas sagt. »Du bist ein Idiot.« Dann geht sie weiter die Treppe hinunter.
    »Ach ja?« rufe ich und folge ihr. »Warum verschwendest du dann deine Zeit mit mir?« Ich überhole Aimee und stelle mich auf der untersten Treppenstufe vor sie hin. »Ich bin also ein Idiot. In Ordnung, du bist die Psychologin. Dann sag mir aber auch, wie ich daran was ändern kann! Was soll ich tun?«
    Aimee holt ihre Brieftasche hervor und daraus ein Blatt Papier. Sie faltet es auseinander und hält es mir hin. Es ist einer der Handzettel, mit denen wir meinen Vater gesucht haben. Er ist zerknittert und hat einen dunklen Fleck dort, wo die Telefonnummer steht.
    »Woher hast du den?«
    »Ist doch egal. Gefunden.« Sie sieht mich an, scheint auf etwas zu warten.
    »Wir haben nach meinem Vater gesucht«, sage ich.
    »Und habt ihn nicht gefunden. Oder?«
    Ich sage nichts. Ich weiß nicht einmal, ob ich den Kopf schüttle.
    »Ich hab da angerufen«, sagt Aimee. Sie faltet den Zettel zusammen und will ihn in die Brieftasche stecken, aber dann hält sie ihn mir hin.
    »Wann?« Ich nehme das gefaltete Blatt. Hunderte davon habe ich verteilt, eine Ewigkeit ist das her.
    »Etwa vor einem Monat. Alice hat mir erzählt, ihr hättet deinen Vater gefunden. Dafür seist du jetzt weg.« Einen Augenblick bleibt Aimee noch stehen, dann geht sie die letzten Stufen hinunter in die Lobby.
    »Hast du ihr gesagt, wo ich bin?«
    Aimee dreht sich nicht mehr um. »Ist das dein einziges Problem?«
    »Es ist alles viel komplizierter, als du denkst«, sage ich und halte sie am Arm fest.
    Aimee sieht auf meine Hand, und ich lasse sie los. »Erklärst du’s mir?« Sie steht da und sieht mich an, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Blick ist fordernd und ungeduldig, das Gegenteil von ermutigend. Dann dreht sie sich mit einem Ruck um und will gehen, aber

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