Nach Hause schwimmen
tiefsinnig, ein Künstler. Ich würde mir unnötig Gedanken machen, haben sie gesagt, mit Bobby sei alles in Ordnung.« Sie zerknüllt das Zuckerbriefchen. »Nach dem College wollte ich studieren, Psychologie, aber ... tja ... meine Noten waren nicht gerade toll. Also habe ich gejobbt, als Kellnerin, Verkäuferin ... du weißt schon, so was eben.« Aimee trinkt ihren Kaffee aus und löffelt dann abwesend den Zucker vom Boden der Tasse.
Die Leute um uns herum gehen, auch der Hund ist auf einmal weg. Ein paar Tische entfernt sitzt eine alte Frau und klaubt Flusen von ihrem feuchten Schal. Ihren Kaffee trinkt sie wie ich mit dem Löffel.
»Irgendwann hatte ich genug von den Idiotenjobs und hab eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Ein bisschen hat das ja auch mit Psychologie zu tun.« Sie leckt den Löffel ab und sieht mich an. Ich nicke. »Bobby war fünfundzwanzig, als er versucht hat, sich umzubringen. Er hat sich im Garten in den Schnee gesetzt und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Die Tochter unserer Nachbarn, das Mädchen, das er immer heimlich gezeichnet hat, hat ihn gefunden. Er kam ins Krankenhaus, nicht das, wo ich gearbeitet habe, und eine Woche später wurde er ins Caldwell Institut verlegt. Meine Eltern hielten das für eine gute Idee, das Institut war ein halbes Jahr zuvor eingeweiht worden. Alle Welt lobte die neuen Methoden, die wunderbaren Therapien und deinen tollen Dr. Vermeer.«
»Er ist nicht mein Dr. Vermeer«, sage ich ruhig. »Und ich habe nie behauptet, er sei toll. Ich habe nur gesagt, dass ich ihm nichts vorwerfen kann.«
Aimee nickt, schiebt mit der Fingerspitze Zuckerkörnchen hin und her. Ich wünschte, ich hätte nichts gesagt, ihr einfach nur zugehört.
»Ja, klar«, sagt Aimee, »tut mir leid. Auf jeden Fall hat mein Bruderelf Tage später einen zweiten Selbstmordversuch unternommen, und diesmal hat er es geschafft.« Sie sieht mich an, in ihrem Blick liegt etwas Herausforderndes und unendlich Trauriges.
Vor dem Lokal bellt der Hund. Aimee zieht die Nase hoch und wischt sich mit dem Ärmel über die Augen. Der Kratzer auf ihrer Wange ist verschwunden. Die Kellnerin kommt und schenkt Kaffee nach. Sie ist müde und nicht sehr freundlich, aber Aimee lächelt ihr zu und bedankt sich. Jungen in Pfadfinderuniform gehen am Fenster vorbei, der vorderste trägt eine Fahne. Es regnet nicht mehr.
»Warum warst du auf dem Friedhof?« fragt Aimee.
»Einer der Männer aus dem Hotel liegt da begraben.«
»Lebst du gerne in dem Hotel?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ja. Es geht.«
»Hast du deinen Vater gefunden?«
»Was?« Ich sehe Aimee an, aber sie sagt nichts mehr, sie weiß, dass ich ihre Frage verstanden habe. Sie tut Zucker in ihren Kaffee und rührt um. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich ihr von meinem Vater erzählt habe, aber es fällt mir nicht ein. Vielleicht hat sie damals die Sachen in meinem Koffer gesehen, die Fotografie, die Briefe. »Nein«, sage ich schließlich.
»Lass uns gehen«, sagt Aimee und steht auf, gerade als ich nach ihrer Hand greifen will.
Eigentlich wollte ich Aimee den Boden der Lobby zeigen und die weißen Wände und Spencers Bilder, aber sie ist nicht in der Stimmung dafür, und außerdem sitzen Alfred, Enrique, Mazursky, Elwood und Harvey und zwei Männer, die ich noch nie gesehen habe, auf den Sofas, rauchen, spielen Karten und Domino und reden Schwachsinn. Obwohl Aimee schlecht gelaunt ist, grüßt sie die alten Männer beinahe fröhlich, und das Septett grüßt zurück und winkt. Natürlich lassen Alfred und Enrique ein paar dumme Sprüche vom Stapel, und Mazursky wiehert los. Aimee hat unterwegs ein Sixpack Bier gekauft, das Enriques Blick nicht entgangen ist, und als ich hinter ihr die Treppe hochgehe, ruft er irgendwas in der Art, dass sie mich erst abfüllen und dann Sex mit mir haben wird und dass ich auf der Hut sein soll. Ich zeige ihm den Finger und nehmemir vor, ihm bei der nächsten Gelegenheit die Brille zu verstecken und ihn einen Tag lang halbblind durch die Gegend tapern zu lassen.
Falls Aimee vom Anblick meines Zimmers beeindruckt ist, kann sie es gut verbergen. Sie sieht sich um und setzt sich in Spencers Sessel, das Bier auf den Knien. Eine Flasche hat sie schon im Taxi getrunken, obwohl der Fahrer davon nicht begeistert war und dauernd in den Innenspiegel gesehen hat, und jetzt öffnet sie die zweite.
»Willst du ein Glas?« frage ich.
Aimee schüttelt den Kopf. Der leere Rucksack liegt neben ihr, und erst jetzt
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