Nach Hause schwimmen
Fußboden und bearbeitet ihn mit Schleifpapier, als wären Harveys Sätze auf das Holz geschrieben und müssten ausradiert werden. Für eine lange Zeit redet keiner mehr, sogar Mazursky hält die Klappe. Ab und zu werfe ich einen Blick auf Harvey, der von der Seite noch mehr wie Gene Hackman aussieht und an dessen linker Hand ein goldener Ehering glänzt.
Am späten Nachmittag bringt Elwood uns alkoholfreies Bier, das Randolph aus der Instandhaltungskasse zahlt. Dobbs kommt mit einer Tüte Hot Dogs, lobt unseren Fortschritt und entschuldigt sich zum tausendsten Mal dafür, dass er nicht mithelfen kann. Er hat sich vom Schleifen eine Sehnenscheidenentzündung am Handgelenk geholt und kann kaum noch einen Löffel halten. Die Salbe aus der Apotheke verströmt einen Geruch nach Menthol und Harz, der sich mit dem Duft von Sauerkraut, Zwiebeln und Chili mischt. Während wir essen, tritt Joe Feltrinelli, neben Harvey der zweite Neuzugang, der uns wohl eine Weile erhalten bleiben wird, aus dem Fahrstuhl. Joe ist sechsundsiebzig und nicht gerade das, was man einen geselligen Kerl nennt. Er redet mit keinem von uns auch nur ein einziges Wort, strahlt dabei aber nicht die Freundlichkeit aus, die Spencer zum sympathischen Sonderling gemacht hat, sondern verbreitet eine Aura von Kälte und Verschlossenheit. Enrique hat ihm den Spitznamen Silent Joe gegeben, und hinter seinem Rücken nennen ihn alle so. Mazursky versteigt sich zu der Theorie, Silent Joe sei ein ehemaliger Mafiaboss, der hier untertauche, um einem familiären Mordkomplott zu entgehen, aber die meisten hier halten den schweigsamen Neuling einfach nur für einen Kotzbrocken. Joe setzt seine Sonnenbrille auf und verlässt das Hotel, ohne einen Blick an uns zu verschwenden.
»Eingebildeter Arsch«, sagt Alfred, dann macht er sich wieder über den Boden her.
Bis zum Abend sind wir mit dem Schleifen fertig. Wir feiern denAnlass in einem billigen Lokal drei Querstraßen weiter, wo es zu jeder Mahlzeit umsonst Suppe und Pudding gibt.
Am Sonntag fahre ich mit dem Bus zum Friedhof und besuche Spencers Grab. Gestern haben Enrique, Harvey und ich den Boden eingeölt, und als wir fertig waren, konnte nicht einmal Randolph ganz verbergen, wie sehr das Resultat ihn überwältigte. Davon und von Iris Rawlings und Harvey Kurz und Silent Joe erzähle ich Spencer, während ich Unkraut zupfe und einen Strauß frischer Blumen in die Vase stelle. Es ist bewölkt, aber es regnet nicht, obwohl Winston heftige Niederschläge angekündigt hat. Überall auf dem riesigen Friedhof knien Leute vor Grabsteinen und reden leise mit ihren Toten. Eine dicke Frau sitzt auf einem Klappstuhl und liest aus einem Brief vor. Wenn ich hier bin, muss ich an Orla denken und daran, wie gerne ich ihr Grab besuchen und ihr von all den vergangenen Jahren erzählen würde. Wie gerne ich die Erde berühren würde, unter der sie mit meiner Mutter in den Armen liegt.
Ich weine und entschuldige mich bei Spencer, dass es nicht seinetwegen ist. Ein kalter Wind kommt auf, die dicke Frau faltet die weißen Blätter zusammen und rückt mit dem Stuhl näher zum Grabstein wie an einen Ofen. Über gewundene Kieswege gehe ich zum Haupttor, ein weiter Weg, und plötzlich fallen Regentropfen. Von einer Sekunde auf die andere schüttet es, und ich renne unter die Äste eines Baumes und sehe zu, wie der Himmel sich leert. Und ich sehe Aimee. Ich weiß sofort, dass sie es ist. Sie ist die einzige hier, die nicht rennt. Eine Weile warte ich, dann folge ich ihr. Leute kommen mir entgegen, Männer mit Zeitungen über dem Kopf, Frauen unter Handtaschen und Blumenpapier und hochgezogenen Mänteln. Aimee geht über eine Wiese, und ich renne von einem Baum zum nächsten und sehe ihr nach. Sie ist klatschnass, die Haare kleben ihr am Kopf, aber es scheint sie nicht zu kümmern. Ich bin zwischen zwei Bäumen auf einer Wiese, als sie vor einem Grab stehen bleibt. Deckungslos warte ich, nass bis auf die Haut, die durchweichten Schuhe im kurzgeschnittenen braunen Gras. Außer uns ist niemand mehr zu sehen, ein schwarzer Schirm verschwindet aus meinem Blickfeld, ein Vogel in einem Gebüsch. Das Prasseln des Regens schluckt jedes andere Geräusch. Aimee nimmt etwas aus einem kleinenRucksack und betrachtet es lange, dann geht sie in die Hocke und legt es auf die Steinplatte. Eine Weile kauert sie so, dann erhebt sie sich und dreht sich zu mir um. Ich weiß nicht, wie lange wir uns ansehen, aber es kommt mir wie eine Ewigkeit
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