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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Schwester los, öffnete den Kleiderschrank und kniete sich hin, um die hinter Schuhen und Schachteln verborgenen Winterstiefel hervorzuholen, in denen der Revolver und die Munition lagen. Er schob die Patronen im Dunkel des Schrankes in die Kammern, klappte die Trommel zurück, schob die Waffe unter das Hemd und erhob sich. Er nahm Fiona wieder an der Hand und führte sie ins Badezimmer, strich ihr über den Kopf, ging hinaus und sperrte die Tür zu. Fionas Weinen wurde zum panischen Schreien und vermischte sich, während Conor die Treppe hinunterging, mit der einfältig fröhlichen Musik aus dem Radio.
     
    Das Sonnenlicht ließ ihn in der offenen Tür verharren, er hörte die Stimmen seiner Eltern und die von Colm, darüber lagen der Lärm der Säge und das aufgeregte Wiehern des Pferdes. Er nahm keine Worte wahr, nur diesen Lärm, der ihn traf wie die Hitze, und er umfasste den Griff des Revolvers mit beiden Händen und ging auf seinen Vater zu. Colm sah die Waffe als erster und rief etwas, öffnete zumindest den Mund. Er hob die Arme, seine Bewegungen waren langsam, verloren sich im Licht, das Conor nichts mehr sehen ließ außer seinen Vater, die dunkle Gestalt, die das Pferd in den Anhänger zerrte und es mit einer Holzlatte auf die Flanke schlug.
    Aislin sah den Revolver, begriff erst nicht und starrte Conor an. Dann entfuhr ihr ein Schrei, höher als das wütende Singen des Sägeblatts, das sich durch einen Baumstamm fraß, sie taumelte auf ihren Sohn zu, und wie in völliger Dunkelheit streckte sie die Hände nach ihm aus. Conor hielt den Griff mit beiden Händen fest und hob die Arme, zielte mit dem Lauf auf seinen Vater. Als Sean sich umdrehte, sah Conor ihm ins Gesicht und drückte ab.
    Die Stille nach dem Knall war ein Vakuum, das jedes andere Geräusch schluckte, ein schwarzes Loch, in dem eine ganze Welt verschwand. Conor hörte nichts mehr, nicht den Schrei seiner Mutter, nicht Colms Ruf und nicht das Trampeln des Pferdes, das über den Hof zur Straße galoppierte, und auch nicht den langen, seufzenden Atemzug seines Vaters, als er auf die Erde fiel.
     
    Orla war zu Hause und bei Colm gewesen und fuhr jetzt in den Ort. Colm hatte ihr gesagt, dass er mit Wilbur den Markt besuchen würde, und sie nahm an, dass die beiden vor Dempsey’s Pub in der Abendsonne saßen und Limonade tranken. Sie konnte es kaum erwarten, Wilbur zu sehen und ihm die Überraschung zu präsentieren. Während sie an der Küste entlangfuhr, sang sie laut den Refrain eines Liedes mit, das sie am Morgen zum ersten Mal gehört hatte. Das Licht über den Hügeln wurde schwach, als ob es von den Wolken aufgesaugt würde wie Jod von Wattebäuschen. Böen kraulten grob das Gras auf den Feldern und fuhren in Baumkronen, die sich blähten. Das Meer war unruhig und von einer Helligkeit, als sei die Oberfläche ein Schwarm aus Fischen, die das letzteLicht auf ihren Rücken trugen. Weit vorne berührte das Tintenblau die Erde, dort regnete es schon.
    Orla sah das Pferd nicht, das vor ihren Wagen rannte. Vielleicht hätte sie sich an sein weißes Fell mit den braunen Flecken erinnert, an die helle Mähne, die im Wind flatterte, an die Bewegung des Körpers, die einfror wie manchmal das Bild auf der Leinwand im Dubliner Kino, bevor endlich ein neuer Projektor angeschafft worden war. Wahrscheinlich wäre ihr der Refrain des Liedes, das sie in der Sekunde des Zusammenpralls gesungen hatte, nie mehr aus dem Kopf gegangen, eine endlos kreisende Hymne auf die Willkür des Schicksals, den Zynismus des Zufalls.
     
    Das Autoradio lief noch, als Conor McGonigle mit seinem fünfundzwanzig Jahre alten Lieferwagen an der Unfallstelle hielt. Als junger Bursche war er im Krieg gewesen, hatte mit Deutschland gegen die Engländer gekämpft, war verwundet worden und erst mit dreißig aus amerikanischer Gefangenschaft freigekommen. Keinen einzigen Engländer hatte er getötet, dafür italienische Partisanen, gegen die er nichts hatte. Als er zum ersten Mal tote Frauen gesehen hatte, war er desertiert. Jetzt stand er vor dem himmelblauen Auto und zwang sich, nicht wegzurennen wie damals. Es kostete ihn seine ganze Überwindung, Orlas blutigen Arm zu berühren, um ihren Puls zu fühlen, der unter seinen Fingern schwächer wurde und schließlich erlosch. Orlas Oberkörper lag auf der Kühlerhaube des Nissan, ihre Beine verschwanden im Wagen. In blutigen Strähnen floss ihr Haar vom Kopf, kringelte sich an den Spitzen auf dem warmen Blech. Glassplitter glitzerten

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