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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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gegen die behördliche Verfügung nichts tun konnte. Zum ersten Malmusste Wilbur Koffer packen. Colm hatte ihm zwei alte aus braunem Leder vom Dachboden geholt und dann geholfen, sie mit den Dingen zu füllen, die Wilbur brauchen würde. Am Tag, als Wilbur abgeholt wurde, hob Colm den Jungen hoch und umarmte ihn lange. Dann schenkte er ihm eine Giraffe aus Ton und versprach, ihn jede Woche zu besuchen. Er trug die Koffer zum Auto der Beamten und schloss die Tür, nachdem Wilbur eingestiegen war. Wilbur fühlte sich von Colm verraten und wusste, dass es nicht so war. Trotzdem drehte er sich erst um, als der Wagen den Hof weit hinter sich gelassen hatte. Er sah den alten Mann auf dem Vorplatz stehen, klein und schmal im Licht, das aus einem riesigen Himmel fiel, und er hob die Hand und winkte und wusste nicht, ob Colm es sah.
    Die Beamtin, die auf dem Beifahrersitz saß, drehte sich ab und zu um und stellte Wilbur Fragen. Sie lächelte und versuchte nett zu sein, aber Wilbur sagte keinen Ton. Irgendwann gab die Frau auf und sah auf die Straße, die sie nach Portsalon brachte. Wilbur steckte sich den Finger in den Hals und würgte das Essen samt Nachtisch hervor, das Colm für ihn zubereitet hatte. Der Fahrer fluchte und hielt an, und die Frau suchte in ihrer Handtasche nach Papiertaschentüchern. Wilbur musste aussteigen. Sie standen auf einem Hügel, zwischen Felsen grasten ein paar Schafe. Wilbur blickte über das Meer, dann über das Land. Weit weg sah er Colms Hof, dahinter das Haus und die Mauer mit der roten Tür.
    Während der Mann und die Frau das Erbrochene aufwischten, ging Wilbur die Straße hinunter auf die Häuser zu. Er wollte bei Colm bleiben, wollte jeden Morgen dessen klebriges Porridge essen und am Abend Karten spielen. Er wollte keine fremden Leute, die ihm Familie und fürsorgliche Eltern vorgaukelten. Er wollte kein besseres, schöneres Leben, wie es ihm die Beamtin versprach. Er wollte nachts in seinem Bett liegen und den Allmächtigen darum bitten, ihn zu sich zu holen. Dazu brauchte er diesen Trott, diese stummen Rituale, die er mit Colm einstudiert hatte. Gott würde irgendwann ein Einsehen haben und Wilburs Gebete erhören. Umgab Wilbur erst einmal amtlich verordnete Liebe, wäre Gott bestimmt nicht mehr bereit, dieses junge Leben zu beenden.
    Wilbur hatte den Wagen schon weit hinter sich gelassen, als derBeamte angerannt kam und ihn zurückholte. Als er wegrennen wollte, packte ihn der Mann, und Wilbur merkte, wie die Tongiraffe in seiner Jackentasche zerbrach. Während der restlichen Fahrt redete niemand. Um den Geruch zu vertreiben, waren alle Fenster geöffnet, und Wilbur musste an die Ausflüge mit Orla denken. Erst überkam ihn der Drang zu weinen, aber dann begann er stattdessen zu singen. Laut und falsch sang er Mistletoe and Wine von Cliff Richard und hörte erst auf, als der Wagen vor dem Haus der Conways hielt.
     
    Pauline Conway war eine dreiundfünfzigjährige Frau, die unter der Last, Gutes zu tun, müde und verbittert geworden war. Neben drei eigenen Töchtern und zwei Söhnen, die das Haus spätestens mit achtzehn verlassen hatten, waren im Lauf der Jahre vier Waisenkinder durch die Conway’sche Erziehungsmaschinerie geschleust worden. Wilbur war die Nummer fünf. Pauline und ihr Mann Henry führten ihren neuen Schützling durch das Haus, zeigten ihm den Garten und auch die Garage, in der ein blitzender silberner Wagen stand. Pauline redete in einem fort und zählte dabei all die Dinge auf, die Wilbur zu unterlassen hatte. Ihr Verbotskatalog war bereits länger als der von Miss Ferguson, als sie Wilburs Zimmer betraten. Pauline schob Wilbur in den Raum, und Henry legte ihm eine Hand auf die Schulter.
    »Das ist dein Reich«, sagte Pauline und fügte gleich hinzu, Wilbur dürfe ohne Erlaubnis weder das Fenster öffnen noch an der Heizung drehen oder Bilder aufhängen.
    Wilbur sah aus dem Fenster auf die Äste eines Baumes, die sich im leichten Wind bewegten. Er hatte sich im Auto vorgenommen, kein Wort mehr zu reden, und nicht vor, daran etwas zu ändern. Pauline und Henry, die sich mit verschreckten Kindern auskannten, waren überzeugt, dass ihr neuer Ziehsohn seine Schüchternheit schon bald ablegen würde. Als Pauline ihn aufforderte, den Schrank zu öffnen, blieb Wilbur in der Mitte des Zimmers stehen und rührte sich nicht. Schließlich machte Pauline die Schranktüren selber auf und tat beim Anblick von Bergen alter Spielsachen überrascht. Auch Henry mimte den

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