Nach Hause schwimmen
Rodrigo hat ihn gerade noch rechtzeitig gefunden. Jetzt liegt Stan auf der Krankenstation. Um ihn soll Vermeer sich kümmern, nicht um mich. Mag sein, dass ich lebensuntauglich bin. Aber noch viel weniger tauge ich zum Sterben.
Nachdem ich Aimee ein paar Mal ausgewichen bin, lässt sie mich in Ruhe. Am Tag nach der Sache im Gartenhaus wollte sie mit mir reden, aber ich habe sie einfach stehen lassen. Wenn wir uns auf den Fluren begegnet sind, habe ich den Blick gesenkt und bin rasch an ihr vorbeigegangen. Einmal hielt sie mich fest, sagte, es täte ihr leid und ich solle ihr zuhören. Ich habe mich losgemacht und bin raus in den Garten. Jetzt ist sie nicht mehr in der Offenen Abteilung. Melvin sagt, sie arbeite im Büro, das sei Teil des Praktikums. Er hat mich angesehen und gesagt, er könne bei ihr ein gutes Wort für mich einlegen, und hat dabei gezwinkert. Er wollte bloß nett und witzig sein, aber ich bin aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen.
Melvins Metamorphose vom Fremden zum guten Onkel geht mir ein bisschen zu schnell. Meinen richtigen Onkel habe ich nie gesehen. Brendan heißt er und lebt, soviel ich weiß, in Limerick. Deirdre, Orlas Schwester, hat es nach der Scheidung nach Spanien verschlagen, vielleicht auch schon wieder woandershin. Sie ist zu Orlas Beerdigung gekommen und hat die ganze Zeit geweint und mich lange umarmt und gesagt, ich soll mit ihr kommen und bei ihnen leben. Aber ich bin beiColm geblieben. Was mich betrifft, habe ich keine Verwandten mehr, jedenfalls keine, mit denen ich etwas zu tun haben will, und die Stadt der Selbstmörder ist so ziemlich der letzte Ort auf der Welt, wo ich mir so etwas wie eine Ersatzfamilie suchen werde.
Es wird Zeit, dass ich von hier verschwinde. Ich bin nicht mehr und nicht weniger ein Fall für den Psychiater als die meisten Menschen, denen ich begegnet bin, draußen und hier drin. Für mein Alter besitze ich eine umfangreiche Sammlung von Macken. Ich bin komplex, nicht verrückt. Niemand soll sich anmaßen, in mir lesen zu wollen wie in einem Buch. Ich bin kleingedruckt, mein Titel verschwindet unter dem Staub einer verlassenen Bibliothek. Mein Leben hat einen starken Hang zum Tragischen, nicht ich. Ich wünsche mir Einklang, flach verlaufende Bahnen, Stille. Ich ziehe die Ereignislosigkeit dem Toben des Schicksals bei Weitem vor. Mein Idealzustand wäre, in Ruhe gelassen zu werden.
Ich stehe im Badezimmer und sehe in den Spiegel. Mit Melvins Rasierschaum bedecke ich meine Wangen, das Kinn und den Hals. Der Wegwerfrasierer legt Schneisen im Gesicht frei, ein Schneepflug in trostloser Landschaft. Ich wasche mich, ziehe saubere Sachen an. Dann mache ich mich auf die Suche nach Vermeer.
Ich sitze da und versuche entspannt auszusehen. Die beiden Pfleger, die mit mir auf Vermeer warten, sind die, die mich damals gebadet haben, Rob und Phil. Ich überlege, ob ich ein wenig mit ihnen plauschen soll, aber vermutlich sind sie an Konversation mit Patienten nicht interessiert. Außerdem verlasse ich vielleicht noch heute die Stadt und will keine Freundschaften mehr schließen. Rob, der Gutaussehende, blättert in seinem Taschenkalender und kritzelt dann mit einem winzigen Stift kurze Sätze hinein. Mit den Füßen wippt er zu einer Melodie, die nur er hört. Phil, dem die Gene früh den Hinterkopf gerodet haben, isst ein Sandwich und grinst kurz, wenn unsere Blicke sich treffen. Er scheint noch immer überrascht von der Tatsache, dass ich wieder rede. Vor etwa zehn Minuten hat er Vermeer per Mobiltelefon benachrichtigt. Dabei hat er sich ein paar Schritte von mir entfernt und geflüstert.
Wir sitzen im Flur vor Vermeers Büro. Vermeer hat in der Halboffenen zu tun. Die Nachricht vom Ende meiner Stummheit wird ihn bestimmt bald hier sein lassen. Im Geist gehe ich Sätze durch, mit denen ich den Arzt begrüßen werde. Dazu übe ich eine Miene, ein zerknirschtes Lächeln, zusammengepresste Lippen unter hochgezogenen Augenbrauen. Phil sieht mich ab und zu verstohlen an. Wahrscheinlich denkt er, ich sei irre, zwar nicht mehr stumm, aber trotzdem durchgeknallt. Er hat sein Sandwich gegessen und geht zum Getränkeautomat, um sich eine Dose Sprite zu ziehen. Er fragt mich, ob ich Durst habe, und hebt den Arm mit der Dose, als wolle er sie gleich in meine Richtung werfen.
Ich schüttle den Kopf, lächle. »Nein«, sage ich dann, als mir einfällt, dass ich wieder rede. »Vielen Dank«, füge ich hinzu, um zu beweisen, wie umgänglich ich sein
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