Nach Hause schwimmen
Nachmittag, ich würde gerne noch eine Nacht hierbleiben und morgen ausgeruht los.
»Sie haben mein Vertrauen in Ihren Lebensmut nicht enttäuscht«, sagt Vermeer. »Die Entscheidung, Sie trotz Gefährdung in die Offene Abteilung zu verlegen, war unter meinen Kollegen nicht unumstritten, müssen Sie wissen.« Er lächelt mich an, dann klappt er sein Notebook auf. Ein Flaum aus blauem Licht legt sich auf seine Haut und wird weiß. Der Strick sieht neu aus, unbenutzt, und er ist kurz, misst vielleicht vierzig Zentimeter. Ziemlich unwahrscheinlich, dass er um den Hals eines Selbstmörders gelegen hat. Trotzdem würde ich gerne wissen, ob es sich dabei um ein makaberes Souvenir handelt, das Erinnerungsstück an einen besonderen Fall. Oder ob das Seil dazu da ist, ihn jeden Tag daran zu erinnern, mit welcher Art von Männern er es hier drin zu tun hat. Vermeer tippt etwas in das Notebook. Dass er den Strick für sich bereithält, schließe ich aus. Ob er ihn ab und zu umhängt, nur um zu sehen, wie es sich anfühlt? Und ob er dabei auf seinen Stuhl steigt?
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie unsere Einrichtung so schnell wie möglich verlassen wollen«, sagt Vermeer und klappt das Notebook zu. Er lächelt wieder und faltet die Hände. »Trotzdem bitte ich Sie, noch eine Woche zu bleiben.«
Ich sehe ihn an. Die Bitte überrascht mich, ich stelle mir Engpässe bei der Aufnahme neuer Insassen vor, Abweisungen aufgrund von Überbelegung, Dutzende gescheiterter Selbstmörder, die auf ein freies Bett warten, einen Platz im Runden Zimmer, eine Nische zum Überleben.
»Am nächsten Freitag besucht uns eine Delegation aus Washington«, sagt Vermeer. »Vertreter eines Ausschusses, der über die Vergabe und die Verlängerung von Lizenzen für privat geführte Kliniken bestimmt. Es wird eine Besichtigung geben, Tischlerei, Schwimmbad, der Garten, vielleicht einen Spaziergang im Park. Am Schluss stelle ich mir ein Gespräch vor, die Leute des Ausschusses und zwei, drei Männer, die hier neue Kraft gefunden haben, neue Hoffnung.« Er sieht mich an, wartet. Seine rechte Hand liegt auf dem Strick. Ich stelle mir vor, wie er sich daran aufhängt, nachdem ich seine Bitte abgeschlagen und das Büro verlassen habe. Aber dann sehe ich, dass es keine Möglichkeit gibt, das Seil an der Decke zu befestigen.
»Ich weiß nicht«, sage ich. Eine Nacht wollte ich sowieso noch bleiben. Aber eine ganze Woche?
»Ich verstehe Ihre Vorbehalte«, sagt Vermeer. Er steht auf, den Strick lässt er liegen. »Erlauben Sie mir eine Frage. Was gedenken Sie draußen zu tun? Ich meine, was haben Sie für Pläne?«
Pläne, denke ich, Pläne habe ich keine. Mein Leben lang hatte ich noch keinen Plan. Ich habe Dinge getan, manche mit weitreichenden Folgen, aber keine meiner Handlungen war ausgedacht oder vorbereitet. Ich folge Impulsen, lasse mich treiben, reagiere. Ich bin ein Nichtschwimmer in einem zähen Fluss. Ich halte mich wahllos an Dingen fest, um nicht unterzugehen.
»Lassen Sie mich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten«, sagt Vermeer. Er stützt die Hände auf den Tisch und sieht mich an. »Wenn Sie bleiben, werden wir Ihnen beim Neustart ein wenig unter die Arme greifen. Sagen wir, mit zweitausend Dollar.«
Vermeer weiß, dass ich pleite bin. Der Typ im Hotel hat ihm bestimmt erzählt, wie ich meine letzten Scheine hervorgekramt habe, um für das Zimmer zu bezahlen. Zweitausend Dollar würden mich eine ganze Weile über Wasser halten.
»Einverstanden?« fragt Vermeer und streckt mir die Hand entgegen.
Er lächelt. Er war nett zu mir. Er ist glücklich, weil er glaubt, mir das Leben gerettet zu haben. Ich schulde ihm etwas. Ich ergreife seine Hand.
»Unter einer Bedingung«, höre ich mich sagen. Der Satz ist mir rausgerutscht, ich wollte ihn nur denken, nicht aussprechen. Ich ziehe die Hand zurück und lege sie neben die andere in den Schoß.
»Ja?« Vermeers Lächeln ist durch nichts zu vertreiben. Er setzt sich hin und nimmt einen Stift in die Hand, als wolle er sich meine Forderung aufschreiben.
»Ich möchte das Bild sehen«, sage ich. Dabei deute ich mit einer Kopfbewegung auf den Rahmen neben dem Notebook.
Vermeer scheint völlig überrascht zu sein. Er sieht den Rahmen an, als würde ihm dessen Gegenwart zum ersten Mal seit langer Zeit wieder bewusst. Er legt den Stift hin und nimmt ihn in die Hand, betrachtet ihn. Dann gibt er ihn mir.
Ich drehe den Rahmen aus dunklem, glänzendem Holz um. Er ist leer.
Irgendwie werde ich die
Weitere Kostenlose Bücher