Nach Hause schwimmen
kann.
Phil setzt sich, reißt die Dose auf und trinkt. Um mich nicht mehr ansehen zu müssen, holt er ein gefaltetes Heft aus der Gesäßtasche und liest darin.
Rob steckt seinen Taschenkalender ein. Ich überlege, ob er vielleicht etwas über mich eingetragen hat. Er steht auf und macht zu meinem Erstaunen Dehnungsübungen. Als sei es hier und jetzt das Normalste der Welt, streckt er sich, stemmt sich gegen die Wand, geht in die Knie, greift nach der Decke, eine einstudierte Abfolge, begleitet von regelmäßigen Atemstößen. Mit siebzehn wünschte ich mir nichts sehnlicher als einen anderen Körper. Damals hätte ich mit dem Teufel einen Pakt geschlossen, um größer zu sein und kräftiger. Einmal schlug ich auf mein Spiegelbild ein, bis die Knöchel bluteten. Vor Wut und Schmerz heulend, saß ich auf dem Boden und verfluchte mein Schicksal. Ich verfluchte sogar meine Mutter, die mich viel zu früh geboren hatte, aber dann fühlte ich mich nur noch elender und weinte und bat meine Mutter um Verzeihung. Mit Krafttraining habe ich es auch mal versucht, habe Gewichte gehoben und mehr Eier gegessen, als ich verdauen konnte. Wirklich geholfen hat die Schinderei nichts. Ich hatte zwar etwas mehr Kraft als vorher, aber ich legte weder an Gewicht noch an Muskeln messbar zu. Ein Arzt sagte mir, das mit den Muskelpaketen sei Veranlagung, die einen hätten sie, die anderen nicht. Ich habe sie nicht.
Ich bin seither noch ein paar Zentimeter gewachsen, bin jetzt eins zweiundsechzig, ohne Schuhe. Das ist drei Zentimeter kleiner als Roman Polanski, aber acht Zentimeter größer als Danny De Vito. Ich wachse jedes Jahr etwa einen halben Zentimeter, mal mehr, mal weniger. Rein theoretisch könnte ich in vierzig Jahren fast einen Meter achtzig messen. Aber dann bin ich alt und fange schon wieder an zu schrumpfen, also was soll’s. Der Winter ist meine Lieblingsjahreszeit, da kann ich in Moonboots mit dicken Sohlen rumlaufen und fünf Schichten Klamotten übereinander tragen, in denen ich nicht mehr aussehe, als könnte ein Lufthauch mich wegblasen.
Ich bin schläfrig, die Nacht war unruhig, zerstückelt von Träumen. In einem entfernten Flur brummt eine Poliermaschine. Rob macht Tai Chi, womit er mich kaum noch verblüfft. Er steht auf einem Bein und hält die Arme, als würde er einen unsichtbaren Bogen spannen. Er gehört zu den anderen. Er hat die Veranlagung zum perfekten Körperbau, zum maßlosen Glücklichsein. Schön für ihn, mein Kontingent an Neid ist aufgebraucht. Ich schließe die Augen.
Als Vermeer kommt, schrecke ich hoch und habe meine Sätze vergessen und auch den Gesichtsausdruck. Er sieht mich an, streckt mir die Hand entgegen und lächelt.
»Hallo, Will«, sagt er.
Ich ergreife seine Hand und lächle zurück, bin aber nicht sicher, ob es mir gelingt. Vermeer wartet, dann sieht er zu den beiden Pflegern. Rob sagt, ich hätte eben noch gesprochen, und Phil nickt. Vermeer legt mir die Hand auf die Schulter, öffnet die Tür und lässt mich in sein Büro eintreten. Er wechselt ein paar Worte mit Phil und Rob und schließt dann die Tür.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagt er und wartet, bis ich in dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz genommen habe. Dann setzt er sich ebenfalls, faltet die Hände auf der Tischplatte und sieht mich an.
Ich weiß, dass ich etwas sagen soll. Der Tisch, L-förmig und aus Stahl und dunklem Holz, ist überladen mit Aktenstößen, einem Notebook, Zetteln, Büchern, Heften, einer Schale mit Stiften, Büroklammern und anderem Kram, einem Bilderrahmen, dem Telefon und einem StückSeil, das kunstvoll zu einer Henkersschlaufe geknotet ist. Als das Telefon klingelt, zucke ich zusammen. Vermeer sagt, er sei nicht zu sprechen. Das verleiht meinem Hiersein noch mehr Bedeutung, und als Vermeer aufgelegt hat, öffne ich den Mund.
»Ich möchte weg«, sage ich.
Ein Lächeln streicht über Vermeers Gesicht. Eine Weile sitzt er da, die Hände noch immer gefaltet. Ich frage mich, ob sich mit dem Strick jemand erhängt hat. Und falls ja, warum er auf Vermeers Tisch liegt, neben dem Telefon und einem Bild, das vermutlich seine Familie zeigt.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich das mit Freude erfüllt«, sagt Vermeer schließlich. »Ich meine damit sowohl die Tatsache, dass Sie wieder sprechen, als auch Ihren Wunsch, uns zu verlassen.«
Ich nicke. Ich denke daran, nach meinem Koffer zu fragen, überlasse es dann aber Vermeer, meine Abreise zu organisieren. Es ist später
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