Nach Hause schwimmen
konturenlose Höhle wahrnahm. Eine Zeitlang hatte er kleine Brillen mit runden Gläsern undGestellen aus Draht getragen, die nichts wogen und in seinem bärtigen Gesicht verschwanden. Jetzt bevorzugte er die massiven Modelle aus Horn oder Kunststoff, schwarze und braune Fassungen, gemasert und glänzend und nicht zu verbiegen, nur zu brechen. Als Kind hatte er sie gehasst, jetzt liebte er ihr Gewicht und den leichten Widerstand der Scharniere, wenn er die Bügel auf- oder zuklappte.
Er war verheiratet gewesen, länger als ein Leben lag das zurück. Cynthia Moss arbeitete beim städtischen Bauamt, wo sie, unter anderem, für die Bewilligungen zum Fällen von Bäumen zuständig war. Matthew hatte das Haus seiner Eltern geerbt, die jung gestorben waren, sie mit Mitte vierzig an Tuberkulose, er ein Jahr darauf an gebrochenem Herzen, noch keine fünfzig. Matthew wollte eine Fichte beseitigen lassen, die bei Wind vor seinem Schlafzimmerfenster schwankte und im Winter unter der Last des Schnees zusammenzubrechen drohte. Aber jetzt, nur wenige Jahre nach dem Krieg, waren Bäume in den Städten selten, und die wenigen verbliebenen standen unter behördlichem Schutz.
Nach einem verbissen geführten Papierkrieg stürmte Matthew eines Tages ins Büro seiner Brieffeindin, bereit, sie mit dem Ast, der am Morgen seinen Kopf nur um Haaresbreite verfehlt hatte, zu erschlagen, als ihn die Liebe, oder das, was er dafür hielt, wie ein Stromstoß traf. Von diesem Tag an stand er allabendlich vor ihrem Büro und flehte um ein gemeinsames Abendessen, einen unverfänglichen Lunch, eine harmlose Tasse Kaffee. Er schwor, den Baum in Ruhe zu lassen, schickte ihr Blumen und schrieb eine Sonate für sie. Er wollte auf dem Flur vor ihrem Büro Cello spielen und wurde des Hauses verwiesen. Er trug ihr ein selbstverfasstes Gedicht am Telefon vor, bis sie nicht mehr auflegte.
Irgendwann gewährte sie ihm ein Abendessen. Er führte sie ins beste Lokal der Stadt und gab dem Kellner Tage zuvor Geld, damit der ihn als Herrn Professor und Stammgast begrüßte. Von da an durfte er sie immer samstags einladen. Cynthia schätzte gutes Essen und teuren Wein, und wenn sie einen besonders raffinierten Nachtisch verschlang, erlaubte sie sich sogar die Blöße eines Lächelns. Bald hatte Matthew die Ehre, seine Liebe zwei- oder dreimal pro Woche durch ihren Magen gehen zu lassen. Mit jedem Pfund, das sie an Gewicht zulegte, bröckelte ihr Widerstand gegen Matthews Avancen, und eines Nachts ging sie,leicht benommen von einem sündhaft teuren Pommard, mit ihm nach Hause.
Begleitet vom Ächzen der Fichte, deren Äste das Mondlicht verwischten, legte Matthew sich neben Cynthia und durchbrach ihre letzte Schranke, rang schwitzend und keuchend um ein bisschen Lust und sank schließlich über ihr zusammen, einen Schrei ausstoßend, in dem Triumph und Selbstverachtung schwangen und eine Verzweiflung, die ihn frösteln ließ und bis zum Morgen wach hielt.
Eine Weile sahen sie sich nicht, und Matthew war froh darüber und hoffte, Cynthia fühle genauso. Er dachte daran, sie ein letztes Mal zum Essen einzuladen und ihr zu sagen, warum er die Beziehung, wenn es denn überhaupt eine war, beenden wollte. Aber er brachte es nicht fertig, sie anzurufen. Er besaß eine Fotografie von ihr, und manchmal nahm er sie hervor und sah sie an. Er hatte die Aufnahme gemacht, sie zeigte Cynthia vor der Fichte stehend, die Arme hinter den Rücken gelegt, das Kinn erhoben. Ihr Blick ging an der Kamera vorbei, nicht schüchtern, sondern kühl und eine Spur hochmütig. Zwei Wochen später warf Matthew das Bild weg und fällte den Baum.
Im Monat darauf teilte Cynthia ihm telefonisch mit, sie sei schwanger. Matthew war am Boden zerstört. Er dachte daran, Cynthia seine Ersparnisse und das Haus zu überlassen und nach Frankreich zu gehen, wo ein ehemaliger Studienfreund ein Weingut betrieb. Dann dachte er an das Kind und daran, dass es ohne Vater aufwachsen würde. Er versuchte sich einzureden, dass er es besuchen würde, aber er wusste, dass es nicht dasselbe wäre. Also blieb er.
Cynthia war konservativ, aber verglichen mit ihren Eltern, die er bald kennenlernte, erschien sie Matthew wie die Verkörperung von Rebellion und Fortschritt. Als sie heirateten, war er einunddreißig, sie fünf Jahre jünger. Er war ein Virtuose auf dem Cello, aber er reiste nicht gerne, und so unterrichtete er, seit er zwanzig war, statt mit Symphonieorchestern durch die Welt zu ziehen. Sie besaß einen
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