Nach Hause schwimmen
bis wieder Tränen flossen, ging am nächsten Morgen zum Grab und taumelte zurück in eine endlose Wiederholung verlorener Tage.
Für Cynthia war die Entscheidung, bei ihrem Mann zu bleiben, eine weitere Pflicht, eine Aufgabe, der sie sich stellen musste. Im Krankenhaus war sie bei der Nachricht vom Tod ihres Kindes zusammengebrochen. Drei Tage lang lag sie in Dunkelheit, dämmerte dahin, gehüllt ineine Stille, die in ihr gewohnt hatte. Es war, als sei all die Härte, von der sie sich jahrelang hatte tragen lassen, zu Staub verfallen, als sei sie ein Baum gewesen, den ein Blitz innerhalb eines Atemzugs zerstören konnte. Am vierten Tag stand sie auf, um zu trauern, am fünften nahm sie ihr Leben wieder in die Hand. Was zu tun war, erledigte sie, organisierte das Begräbnis, die Todesanzeige, die Trauerkarten, die Übernachtung ihrer Eltern. Sie fuhr mit Matthew zurück nach Norwich und kümmerte sich um ihn, wie es die Krankenschwestern in London getan hatten. Wenn er weinte, versuchte sie ihn zu trösten, zitierte den Bestattungsunternehmer und sagte Worte wie Tapferkeit und Zuversicht und Mut. Am meisten benutzte sie das Wort Stärke, obwohl sie sah, dass Matthew davon nichts mehr besaß. Zwei Wochen nach der Beerdigung lag Matthew noch immer Nachmittage lang in einem der Zimmer, und sein Anblick tat ihr weh, aber nach einem Monat empfand sie statt Mitleid Ungeduld, dann leise Abscheu, weil er so schwach war und sie an ihre eigene Verletzbarkeit erinnerte.
Aus dem Baumstrunk wuchs ein Trieb, an dessen Ende eine Knospe saß. Matthew entdeckte ihn, als er durch den Garten ging, dessen Rasen braun und verfilzt über die Platten des Gehwegs wucherte. Er war für nichts empfänglich, weder für die Appelle seiner Frau noch für die rührenden Versuche von Agnes, ihn zu einem Besuch im Stadion zu überreden, und schon gar nicht für ein plumpes Symbol, das aus den Überresten eines Baumes spross. Sein Kündigungsschreiben lag auf dem Tisch neben der Haustür, drei Sätze, eine fahrige Unterschrift. Er wollte nicht zurück an die Universität, konnte sich nicht dem Mitgefühl seiner Kollegen aussetzen, nicht dem Trost seiner Schülerinnen. Das Cello würde keinen Ton mehr hervorbringen, keinen Laut, der sein Herz zu berühren vermochte.
Cynthia würde bald gehen, seiner Trauer überdrüssig. Sie würde sich neu in ihr Leben einspuren, deren ausgeleuchtete Bahn sie nur für drei Tage und Nächte verlassen hatte, und würde weitermachen, jetzt erst recht. Er wusste, sie würde die Scheidung wollen. Sie war für klare Verhältnisse, das Kind, um dessentwillen man geheiratet hatte, gab es nicht mehr und damit auch keinen Grund, ein Zusammensein vorzutäuschen. Es war ihm egal. Er richtete sich darauf ein, das Haus zu verkaufen undihr die Hälfte des Gewinns zu geben. Mit dem Geld würde er eine Weile über die Runden kommen, er stellte sich nichts vor, die Zukunft war ein geschlossenes Fenster, hinter dem die Nacht zu keinem Ende kam. Im Schlaf, der Erschöpfung war und ein heilloser Rausch, fielen Gedanken aus dem Dunkel auf ihn herab, aber keiner davon war klar genug, um den Tod zu wünschen, und keiner taugte dazu, Leben zu wollen.
Ein Vierteljahr nach Williams Tod ging Cynthia zurück nach London. Sie wollte kein Geld, nur die Scheidung. Sie schrieb Matthew einen Brief, dessen Ton zwischen Aufmunterung und Anklage pendelte und der, die Scheidung vorwegnehmend, mit Cynthia Moss unterschrieben war. Es wurde Sommer, und Matthew saß ganze Tage vor der Steinmauer des Friedhofs und sah den Eidechsen zu. Irgendwann setzte sich eine auf seinen Schuh und sah zu ihm hoch. Er hielt ihr die offene Hand hin, und sie setzte sich darauf. Am Himmel erschienen ab und zu Wolken, die der Frühling dort vergessen hatte, dann duckte sich das Tier in die Wärme von Matthews Handfläche und wartete, bis die Sonne es erneut traf. Leute gingen auf den Wegen hinter ihm, Matthew konnte das Weinen einer Frau hören. Der Gärtner war mit einer Schubkarre, aus der eine farbige Schleife hing, auf dem Weg zum Komposthaufen. Auf der anderen Seite der Mauer wehte aus einem offenen Auto ein Lied, nichts Trauriges. Ein Kind rief etwas, im schmutzigen Himmelblau spannte sich eine Schnur, an deren Ende ein Flugzeug hing.
Matthew weinte, aber er wusste, dass es aufhören würde. Heute würde er nach Hause gehen und Licht ins Zimmer lassen. Er würde den Umschlag mit der Kündigung wegwerfen, das Cello aus dem Kasten nehmen und darauf spielen. Die Töne
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