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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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würden zuerst wehtun, aber er würde nicht aufhören zu spielen. Er würde versuchen weiterzuleben. Er schob die Eidechse sanft von seiner Handfläche, stand auf und ging nach Hause.
     
    Eine Woche später bat er Agnes, wieder bei ihm einzuziehen, was die alte Dame mit Freuden tat. Die polnische Cellistin schloss sich einem vagabundierenden Streichensemble an, das in Kurorten spielte, und Cynthia ging nach Kanada, wo sie Konzerne beriet, wie man am gewinnbringendsten Wälder abholzte. In den ersten Wochen nach ihrerAbreise rief sie Matthew regelmäßig an, um zu fragen, wie es ihm ging, dann meldete sie sich noch einmal im Monat und schließlich gar nicht mehr. Matthew und Agnes besuchten wieder Konzerte und Fußballspiele, und aus einem Abendessen im Restaurant pro Woche wurden zwei und manchmal drei. Am Wochenende gingen die beiden mit Hunden aus dem Tierheim spazieren, und eines der Tiere, einen Boxer mit nur einem Auge, nahmen sie zu sich.
    Als die Stadt den Friedhof vergrößern und dabei die alten Steinmauern abreißen wollte, gründeten sie ein Komitee. Sie sammelten Unterschriften, aber die Leute hatten andere Sorgen. Zwei Wochen bevor die Bulldozer kamen, gingen Matthew und Agnes und eine Handvoll Mitglieder des Tierschutzvereins mit Netzen und Eimern los und fingen so viele Eidechsen, wie es die Flinkheit der Tiere und die Zeit erlaubten. Agnes hatte Mehlwürmer als Köder besorgt und Matthew Fallen aus Abflussrohren gebaut. Drei Tage vor dem Abriss waren die Fallen leer, und Matthew hatte das Gefühl, das Bestmögliche getan zu haben. Er, Agnes und Stuart Doyle, ein fünfundsiebzigjähriger ehemaliger Feuerwehrmann, dem das Leben im Altersheim zu wenig bot, fuhren in Stuarts Auto zu einer ehemaligen Kiesgrube und setzten die Eidechsen aus. Bis in den Abend saßen sie auf warmen Felsen und tranken Wein. Agnes und Stuart hielten sich an der Hand, und Matthew lächelte vor sich hin. Von diesem Tag an erwachte er nicht mehr jede Nacht, aufgeschreckt durch einen Traum, in dem sein Sohn starb.
    Wochen vergingen und Monate, und schließlich verschwanden die Albträume ganz. Stuart zog bei ihnen ein, er war der alleinstehende Herr, auf den Agnes gewartet hatte. Wenn sie am Abend Karten spielten, stellte Matthew sich vor, die beiden seien seine Eltern, und obwohl ihn die Sehnsucht nach William nie loslassen würde, obwohl das Tierheim vor dem Ruin und die Welt am Rand des nächsten Krieges stand, fühlte er etwas in sich, das er als Glück wiedererkannte.
     
    Wilbur wurde nicht Matthews Sohn, auch nicht sein Enkel. Er nahm keinen Platz ein, füllte keine Lücke aus. Er war ein Junge, der vorbeikam, ein Besucher, der das Cellospiel lernte. Nicht die Sehnsucht nach einem toten Kind linderte er, sondern den Schmerz des Alleinseins.Er liebte das Cello, das kleiner war als das von Matthew, geeignet für seine winzigen Hände und kurzen Finger, die nach den ersten Stunden voller Blasen waren. Beim Spielen legte er manchmal die Wange an das Instrument und ließ das Summen, das jetzt greifbar schien, in seinen Kopf strömen. Matthew wies ihn nicht zurecht, er lächelte und spürte die Schwingungen an der eigenen Haut. Wilbur war eine Batterie, die sich durch die Töne des Cellos speiste, und je voller und energiegeladener er wurde, desto leuchtender geriet sein Spiel. Der Umgang mit dem Instrument kam ihm nicht wie Lernen vor, vielmehr schien es ihm, als würde er sich an Fähigkeiten erinnern, die er einmal besessen hatte. Es war, als löse jede Tonfolge eine neue Schicht des Erinnerns, unter der eine längst beherrschte Fertigkeit lag, als sei jeder Griff und jeder Zug des Bogens die Seite eines Buches, in dem er zurückblätterte.
    Wenn er spielte, war er sich nicht bewusst, dass er eine Abfolge von Bewegungen ausführte, die ein Ziel verfolgten, weil er das Ziel erst erkannte, wenn es sich als gefundener Klang im Raum ausbreitete. Er holte einfach Töne aus dem Holzbauch heraus und spielte sie so lange falsch, bis sie es nicht mehr waren. Dabei entstand eine endlose, monotone Melodie, deren Schieflage sich derart langsam dem gesuchten Ton entgegenneigte, dass jemand, der nur eine Weile zuhörte, keinen Fortschritt hätte erkennen können. Matthew fühlte sich an sein altes Radio erinnert, dessen Skalenregler er oft minutenlang drehte, bis er die klaren Signale eines Senders fand. Das Cello war Wilburs Radio, auf dem er Töne suchte und Klänge fand und auf Bruchstücke stieß, Akkorde, die sich zu Melodien formten

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